Jules Verne


Reise um den Mond



Abenteuerroman

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Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-944869-42-1


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Dreiundzwanzigstes Kapitel - Schluß



Erinnern wir uns an die unermeßliche Sympathie, welche den drei Reisenden bei ihrer Abfahrt zu Teil ward. Hatten sie beim Beginnen der Unternehmung solche Aufregung in der alten und neuen Welt verursacht, mit welchem Enthusiasmus mußte man sie bei der Rückkehr empfangen? Sollten nicht die Millionen Zuschauer, welche die Halbinsel Florida überschwemmt hatten, den hochherzigen Abenteurern entgegen eilen? Diese Legionen Fremder, welche aus allen Teilen der Welt an die amerikanischen Gestade geströmt waren, sollten sie das Gebiet der Vereinigten Staaten verlassen, ohne Barbicane, Nicholl und Michel Ardan wieder gesehen zu haben? Nein, und die Leidenschaft des Publikums sollte der Größe der Unternehmung entsprechen. Menschlichen Wesen, welche den Erdball verlassen hatten, und von der außerordentlichen Reise in die Himmelsräume zurückkamen, mußte unfehlbar ein Empfang zu Teil werden, wie dereinst dem Propheten Elias bei seiner Wiederkunft auf die Erde. Zuerst sie zu sehen, dann sie zu hören war der allgemeine Wunsch.

Dieser Wunsch sollte sehr rasch für die gesamten Bewohner der Union verwirklicht werden.

Barbicane, Michel Ardan, Nicholl, die Abgeordneten des Gun-Clubs wurden bei ihrer Rückkehr nach Baltimore mit unbeschreiblichem Jubel empfangen. Der Reisebericht des Präsidenten Barbicane war druckfertig. Der New-York-Herald kaufte dies Manuscript um einen Preis, den man noch nicht kennt, der aber ausnehmend hoch gewesen sein muß. In der Tat, zur Zeit, als die Reise zum Mond in diesem Blatt veröffentlicht wurde, erschien dasselbe in einer Auflage von fünf Millionen Exemplaren. Drei Tage nach der Rückkehr der Reisenden waren die geringsten Details ihres Ausflugs allgemein bekannt. Es blieb nun noch übrig, daß man die Heroen der übermenschlichen Unternehmung zu sehen bekam.

Die Beobachtungen Barbicane's und seiner Freunde um den Mond herum hatten in den Stand gesetzt, die verschiedenen über den Erdtrabanten angenommenen Theorien vergleichend zu kritisieren. Diese Gelehrten hatten mit eigener Anschauung und unter ganz besonderen Umständen beobachtet. Man wußte jetzt, welche Systeme über die Bildung, den Ursprung, die Bewohnbarkeit dieses Weltkörpers man verwerfen, welche man gelten lassen sollte. Sie hatten ja in die tiefsten Geheimnisse seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart, seiner Zukunft geblickt. Was konnte man gewissenhaften Beobachtern für Einwände machen, wel che in einer Nähe von nicht einmal vierzig Kilometer den merkwürdigen Berg Tycho, das seltsamste System der Orographie des Mondes, in Augenschein nahmen? Was konnte man diesen Gelehrten entgegnen, deren Blicke in die Tiefen des Circus Plato gedrungen waren? Konnte man den kühnen Männern widersprechen, welche durch die Wechselfälle ihres Unternehmens bis zu der unsichtbaren Seite des Mondkörpers, welche bisher noch kein menschliches Auge geschaut hatte, geführt wurden? Sie waren jetzt berechtigt, der Selenographie ihre Grenzen zu stecken, welche die Welt des Mondes von Neuem gestaltete, wie Kuvier das Skelett eines Tieres der Urwelt; sie durften behaupten: Dies ist der Mond gewesen, eine bewohnbare Welt, die noch früher als die Erde bewohnt war! Dies ist der Mond, eine unbewohnbare und jetzt unbewohnte Welt!

Zur Feier der Rückkehr des berühmtesten seiner Mitglieder und seiner beiden Genossen dachte der Gun-Club darauf, ihnen ein Banket zu geben, aber es sollte ein würdiger Triumphzug sein, würdig des amerikanischen Volkes, und in solchen Verhältnissen, daß alle Bewohner der Union sich direkt dabei beteiligen konnten.

Alle Hauptstationen der Staatseisenbahnen wurden durch Schienen mit einander in Verbindung gesetzt. Sodann wurden auf allen Bahnhöfen, die mit gleichen Fahnen beflaggt, mit den nämlichen Verzierungen decorirt waren, Tafeln mit gleichförmigen Gedecken aufgestellt. Zu bestimmten Stunden, welche der Reihe nach berechnet, mit Hilfe elektrischer auf die Sekunde gleich gerichteter Uhren angegeben wurden, lud man das Volk ein, an den Tafeln des Bankets Platz zu nehmen.

Vier Tage lang, vom 5. bis 9. Januar, wurden die Bahnzüge auf den Staatseisenbahnen eingestellt, wie des Sonntags zu geschehen pflegt, und alle Wege blieben frei.

Nur eine einzige Lokomotive, größter Geschwindigkeit mit einem Ehrenwaggon, war berechtigt, während dieser vier Tage die Staatsbahnen zu befahren.

Auf der Lokomotive, die von einem Heizer und Maschinisten besorgt wurde, hatte der ehrenwerte Sekretär des Gun-Clubs aus besonderer Gunst einen Platz.

Der Waggon war speziell für den Präsidenten Barbicane, den Kapitän Nicholl und Michel Ardan bestimmt.

Auf den Pfiff des Maschinisten, nach den Hurra's, Hips und allen naturtantigen Bewunderungsausdrücken der amerikanischen Sprache, verließ der Zug den Bahnhof zu Baltimore. Er fuhr achtzig Lieues in der Stunde. Doch was wollte dies bedeuten im Vergleich zu der Geschwindigkeit, womit die drei Heroen aus der Columbiade gefahren waren?

Also fuhren sie von einer Stadt zur anderen, fanden das Volk im Vorbeirafen bei den Tafeln, und wurden von demselben mit gleichem Zuruf begrüßt, mit denselben Bravos willkommen geheißen. Dergestalt durcheilten sie den Osten der Union, Pensylvanien, Connecticut, Massachusets, Vermont, Maine und Neu-Braunschweig; den Norden und Westen, New-York, Ohio, Michigan und Wisconsin; dann wieder abwärts den Süden mit Illinois, Missuri, Arkansas, Texas und Luisiana; den Südosten mit Alabama und Florida; dann fuhren sie wieder aufwärts durch Georgien und die beiden Virginia, Indiana; endlich, nach der Station Washington kehrten sie nach Baltimore zurück, und konnten vier Tage lang glauben, sie würden von den Vereinigten Staaten Amerikas bei einem einzigen riesenmäßigen Banket gleichzeitig mit denselben Hurra's begrüßt.

Die Apotheose war der drei Heroen würdig, welche von der Mythenzeit unter die Halb-Götter versetzt worden wären.

Und jetzt, wird wohl dies Unternehmen ohne Gleichen in den Annalen der Reisen ein praktisches Resultat herbeiführen? Wird man jemals eine direkte Verkehrsverbindung mit dem Mond einrichten? Wird man eine Fahrteinrichtung durch den Weltraum gründen, um die Sonnenwelt in Verkehrsverbindung zu bringen? Wird man einst von einem Planeten zum anderen, vom Jupiter zum Mercur, und später von einem Stern zum anderen, vom Polarstern bis zum Sirius reisen? Wird es einst durch eine Fahrgelegenheit möglich sein, die Sonnen zu besuchen, welche am Firmament wimmeln?

Auf diese Fragen kann man noch nicht antworten. Aber wenn man das verwegene Genie der angelsächsischen Race kennt, wird sich Niemand wundern, daß die Amerikaner aus dem Unternehmen des Präsidenten Barbicane Vorteil zu ziehen suchten.

So hörte man denn auch einige Zeit nach der Rückkehr der Reisenden, daß die Ankündigung einer Kommandit-Gesellschaft mit einem Kapital von hundert Millionen Dollars, in hunderttausend Actien à tausend Dollars, mit dem Namen der Nationalgesellschaft der Verkehrsverbindungen zwischen den Sternen, beim Publikum entschieden günstige Aufnahme fand. Präsident dieser Gesellschaft war Barbicane, Vizepräsident Kapitän Nicholl, Verwaltungssekretär J.T. Maston, Direktor der Bewegungen Michel Ardan.

Und da es im amerikanischen Charakter liegt, für Alles Vorsorge zu treffen, selbst für den Fall eines Bankrotts, so waren zum Voraus zum kommissarischen Richter der ehrenwerte Harry Trollope, und zum Syndicus Francis Dayton ernannt!


Ende

 

 

Inhalt




Vorwort und Rückblick

Erstes Kapitel - Von zehn Uhr zwanzig bis zehn Uhr vierzig Minuten Abends

Zweites Kapitel - Die erste halbe Stunde

Drittes Kapitel- Man richtet sich ein

Viertes Kapitel - Ein wenig Algebra

Fünftes Kapitel - Die Kälte des Weltraums

Sechstes Kapitel - Fragen und Antworten

Siebentes Kapitel - Ein Moment der Berauschung

Achtes Kapitel - 78.114 Meilen

Neuntes Kapitel - Folgen einer Abweichung von der Bahn

Zehntes Kapitel - Die Beobachter des Mondes

Elftes Kapitel - Phantasie und Wirklichkeit

Zwölftes Kapitel - Orographische Details

Dreizehntes Kapitel - Mondlandschaften

Vierzehntes Kapitel - Die dreihundertvierundfünfzigstündige Nacht

Fünfzehntes Kapitel - Hyperbel oder Parabel

Sechzehntes Kapitel - Südliche Hemisphäre

Siebzehntes Kapitel - Tycho

Achtzehntes Kapitel - Bedeutsame Fragen

Neunzehntes Kapitel - Kampf mit dem Unmöglichen

Zwanzigstes Kapitel - Sondieren der Susquehanna

Einundzwanzigstes Kapitel - Ein Mißgeschick Maston's

Zweiundzwanzigstes Kapitel - Rettung

Dreiundzwanzigstes Kapitel - Schluß

 

 

 

Vorwort und Rückblick



Im Laufe des Jahres 1865 wurde die ganze Welt durch ein wissenschaftliches Unternehmen, das in den Annalen der Wissenschaft ohne Gleichen war, in außerordentliche Bewegung versetzt. Die Mitglieder des Gun-Clubs, eines Vereins von Artilleristen, welcher nach dem amerikanischen Krieg sich zu Baltimore bildete, hatten die Idee, sich durch Zusendung einer Kugel mit dem Mond in Verbindung zu setzen. Ihr Präsident Barbicane, der die Unternehmung in Anregung brachte, ergriff, nachdem er die Astronomen des Observatoriums zu Cambridge zu Rate gezogen, alle Maßregeln, welche für den glücklichen Erfolg des von der Mehrzahl sachverständiger Männer für ausführbar erklärten Vorhabens erforderlich waren. Nachdem durch eine öffentliche Subscription etwa dreißig Millionen aufgebracht waren, begann er seine riesenhaften Arbeiten.

In Gemäßheit eines von den Mitgliedern des Observatoriums erteilten Gutachtens mußte die Kanone, welche das Projektil abschleudern sollte, um auf den Mond im Zenit zielen zu können, in einer Landschaft zwischen 0 und 28 Grad nördlicher oder südlicher Breite aufgestellt werden, und man mußte der Kugel eine Anfangsgeschwindigkeit von zwölftausend Yards in der Sekunde geben. Wurde diese am 1. Dezember dreizehn Minuten und zwanzig Sekunden vor elf Uhr Abends abgeschossen, so mußte sie vier Tage hernach, am 5. Dezember um zwölf Uhr Nachts, gerade zu dem Zeitpunkt auf dem Mond eintreffen, wo er der Erde am nächsten stand, in einer Entfernung nämlich von sechsundachtzigtausendvierhundertundzehn franz. Meilen.

Die bedeutendsten Mitglieder des Gun-Clubs, der Präsident Barbicane, Major Elphiston, Sekretär J.T. Maston und andere Gelehrte hielten einige Sitzungen, worin die Form und das Material der Kugel, die Art und Einrichtung der Kanone, die Beschaffenheit und die Menge des Pulvers besprochen wurden. Man beschloß:

1. Das Geschoss solle eine Hohlkugel aus Aluminium sein mit einem Durchmesser von einhundertundacht Zoll, zwölf Zoll dicken Wänden und neunzehntausendzweihundertundfünfzig Pfund schwer.

2. Das Geschütz solle eine Columbiade von Gußeisen sein, neunhundert Fuß lang, und unmittelbar in den Erdboden zu gießen.

3. Zur Ladung sollten vierhunderttausend Pfund Schießbaumwolle verwendet werden, welche sechs Milliarden Liter Gas unter dem Projektil entwickelten, dessen Treibkraft leicht bis zum Nachtgestirn reichen würde.

Als diese Fragen gelöst waren, wählte der Präsident Barbicane mit Hilfe des Ingenieurs Murchison eine Stelle in Florida, unterm 27°7' nördlicher Breite und 5°7' westlicher Länge, wo nach merkwürdigen Arbeiten der Guss der Columbiade vorgenommen wurde und vollständig gelang.

So standen die Dinge, als ein Ereignis dazwischen kam, wodurch das Interesse an der großen Unternehmung hundertfach vergrößert wurde.

Ein pariser Phantast, geistreicher und kühner Künstler, begehrte und erbot sich, in eine Kugel eingeschlossen die Reise nach dem Mond zu machen, um über den Trabanten der Erde Forschungen anzustellen. Michel Ardan hieß dieser unerschrockene Abenteurer. Bei seiner Ankunft in Amerika wurde er mit Enthusiasmus aufgenommen, hielt Meetings, ward im Triumph auf den Schultern getragen, versöhnte den Präsidenten Barbicane mit seinem Todfeind, dem Kapitän Nicholl, und beredete sie beide, die Reise in dem Projektil mitzumachen.

Der Vorschlag wurde angenommen, die Form der Kugel abgeändert. Das Projektil ward cylinder-kegelförmig. Dieser Luft-Waggon wurde, um die Gewalt des Gegenstoßes bei der Abfahrt abzuschwächen, mit einer starken Vorrichtung versehen; sodann mit Lebensmitteln für ein Jahr, Wasser für einige Monate, und Gas für einige Tage. Ein automatischer Apparat bereitete und lieferte die zum Atmen für die drei Reisenden erforderliche Luft. Zu gleicher Zeit ließ der Gun-Club auf einem der höchsten Gipfel des Felsengebirges ein Riesenteleskop bauen, um es möglich zu machen, das Projektil während seiner Fahrt durch den Weltraum zu beobachten. Alles war fertig und bereit.

Am 30. November, zur bestimmten Stunde, fand inmitten einer unzähligen Zuschauermenge die Abfahrt statt, und zum ersten Male sah man drei menschliche Wesen den Erdball verlassen und in den weiten Weltraum emporsteigen, fast vollständig überzeugt, daß sie am Ziel ihrer Reise anlangen würden. Diese kühnen Reisenden, Michel Ardan, der Präsident Barbicane und der Kapitän Nicholl, sollten ihre Überfahrt in siebenundneunzig Stunden dreizehn Minuten und zwanzig Sekunden vollenden. Folglich konnte ihre Ankunft auf der Oberfläche der Mondscheibe erst am 5. Dezember um zwölf Uhr Nachts erfolgen, gerade in dem Moment, da Vollmond eintrat, und nicht am vierten, wie einige irrig berichtete Journale mitteilten.

Doch es begab sich ein unerwartetes Ereignis: die von der Columbiade hervorgerufene Erschütterung bewirkte unverzüglich eine Trübung der Atmosphäre durch Anhäufung einer enormen Menge von Dünsten. Diese Erscheinung rief eine allgemeine Entrüstung hervor, denn der Mond war einige Nächte hindurch den Augen seiner Beobachter verhüllt. J.T. Maston, der würdige und tapfere Freund der drei Reisenden, eilte zum Felsengebirg, um dem ehrenwerten Direktor des Observatoriums zu Cambridge, J. Belfast, Gesellschaft zu leisten, der zu Longs Peak, wo das Riesenteleskop, das den Mond bis auf zwei Meilen nahe rückte, errichtet war, die Fahrt seiner kühnen Freunde beobachten wollte.

Das in der Atmosphäre gehäufte Gewölk hinderte während des 5., 6., 7., 8., 9. und 10. Dezember jede Beobachtung. Man glaubte schon, dieselbe bis zum 3. Januar des folgenden Jahres vertagen zu müssen, weil der am 11. Dezember in sein letztes Viertel tretende Mond dann nur einen stets abnehmenden Teil seiner Scheibe zeigte, welche nicht hinreichte, um die Spur des Projektils zu verfolgen.

Doch endlich vertrieb zur allgemeinen Befriedigung ein starker Sturm in der Nacht vom 11. zum 12. Dezember alles Gewölk aus der Atmosphäre, und der zur Hälfte erleuchtete Mond trat auf dem dunklen Hintergrund des Himmels klar hervor.

In derselben Nacht traf ein Telegramm ein, welches die Herren Belfast und Maston von der Station Longs Peak an das Büro des Observatoriums zu Cambridge gesendet hatten.

Und was enthielt dies Telegramm?

Es berichtete, am 11. Dezember um acht Uhr siebenundvierzig Minuten Abends sei das von der Columbiade zu Stone's-Hill entsendete Projektil von den Herren Belfast und. Maston wahrgenommen worden.

Dasselbe sei, aus unbekanntem Grund von seiner Bahn abweichend, nicht an sein Ziel gelangt, aber doch nahe genug gekommen, um von der Anziehungskraft des Mondes festgehalten zu werden; seine gerade Richtung sei in eine Kreisbewegung übergegangen, und so sei es zu einem Trabanten geworden, der in elliptischer Bahn den Mond umkreise.

Das Telegramm fügte bei, die Elemente dieses neuen Gestirns hätten noch nicht berechnet werden können und in der Tat sind auch drei Beobachtungen des Gestirns in drei verschiedenen Stellungen desselben nötig, um seine Elemente zu bestimmen. Sodann fügte es weiter bei, die Entfernung des Projektils von der Mondoberfläche "könne" auf etwa zweitausendachthundertdreiunddreißig Meilen angeschlagen werden, d.h. viertausendfünfhundert Lieues.

Dasselbe schloß mit der doppelten Annahme: Entweder werde die Anziehungskraft des Mondes zuletzt überwiegen und die Reisenden würden an ihrem Ziel anlangen; oder das Projektil werde, unveränderlich in seiner Bahn festgehalten, seinen Kreislauf um den Mond herum bis an's Ende der Jahrhunderte fortzusetzen haben.

Wie würde es dann den Reisenden ergehen? Zwar Lebensmittel hatten sie für einige Zeit. Aber gesetzt auch, ihr verwegenes Unternehmen gelänge, wie kämen sie dann zurück? Wäre dies je möglich? Könnte man Nachricht von ihnen haben? Diese Fragen, welche die gelehrtesten Federn der Zeit in Bewegung setzten, beschäftigten das Publikum mit Leidenschaft.

Ich muß hier eine Bemerkung machen, welche allzueilige Beobachter beherzigen sollten. Wenn ein Gelehrter dem Publikum eine rein spekulative Entdeckung ankündigt, kann er nicht vorsichtig genug sein. Einen Kometen, Planeten oder Trabanten zu entdecken, ist keines Menschen Schuldigkeit, und wenn man in so einem Falle sich irrt, verdient man die Spöttereien der Menge, welchen man sich aussetzt. Deshalb ist's besser, abzuwarten, und dies hätte auch der ungeduldige J.T. Maston tun sollen, bevor er das Telegramm in die Welt schleuderte, welches, ihm zufolge, über diese Unternehmung sich so entschieden aussprach.

In der Tat enthielt jenes Telegramm einen doppelten Irrtum, wie sich's später herausstellte: 1. Irrige Beobachtung in Beziehung auf die Entfernung des Projektils von der Oberfläche des Mondes, denn am 11. Dezember konnte man es unmöglich wahrnehmen, und was J.T. Maston sah oder zu sehen glaubte, konnte nicht die Kugel der Columbiade sein. 2. Irrige theoretische Ansicht über das Loos des Projektils; denn indem man dasselbe zu einem Trabanten des Mondes macht, setzt man sich mit den Gesetzen vernunftmäßiger Mechanik in Widerspruch.

Nur die Annahme der Beobachter zu Longs Peak konnte sich verwirklichen, daß die Reisenden, falls sie noch bei Leben, sich bemühten, mit Benutzung der Anziehungskraft des Mondes auf die Oberfläche desselben zu gelangen.

Diese so einsichtsvollen, wie kühnen Männer hatten nun aber den erschrecklichen Gegenstoß bei der Abfahrt bestanden, und ihre Reise in dem Projektil-Waggon soll hier mit all' ihren merkwürdigen und dramatischen Erlebnissen erzählt werden. Diese Erzählung wird manche Täuschungen und Vermutungen zu nichte machen; dagegen wird sie von der möglichen Lösung einer solchen Aufgabe einen richtigen Begriff geben, und den wissenschaftlichen Instinct Barbicane's, die industriellen Hilfsmittel und Kenntnisse Nicholl's und die humoristische Kühnheit Michel Ardan's anschaulich machen.

Ferner wird sie darlegen, daß ihr würdiger Freund, J.T. Maston, seine Zeit verlor, als er auf dem Riesenteleskop den Mond auf seiner Bahn durch die Sternenräume fortwährend beobachtete.

Erstes Kapitel - Von zehn Uhr zwanzig bis zehn Uhr vierzig Minuten Abends



Mit dem Schlag zehn Uhr verabschiedeten sich Michel Ardan, Barbicane und Nicholl von ihren zahlreichen Freunden auf der Erde. Die beiden Hunde, welche das Hundegeschlecht in die Mondlande einführen und verbreiten sollten, befanden sich bereits im Projektil. Die drei Reisenden näherten sich der Mündung des enormen Laufs, und ein schwebender Krahnen brachte sie bis zur conischen Spitze der Kugel.

Hier traten sie durch eine zu diesem Behuf angebrachte Öffnung in den Alumin-Waggon ein. Als die Taue des Krahnens aus der Röhre herausgezogen waren, wurde augenblicklich das letzte Gerüste von der Mündung der Columbiade entfernt.

Sowie Nicholl sich mit seinen Gefährten im Projektil befand, schloß er sorgfältig die Öffnung mit einer starken Platte, welche von Innen durch Stellschrauben befestigt wurde. Andere, fest angepaßte Platten bedeckten die Linsengläser der Ausgucklöcher. Die Reisenden befanden sich im tiefsten Dunkel in ihrem metallenen Gefängnis hermetisch eingeschlossen.

"Und nun, meine lieben Kameraden", sagte Michel Ardan, "tun wir, als wären wir hier zu Hause. Ich führe die Verwaltung des Inneren, ein Fach, worin ich sehr stark bin. Wir müssen's uns in unserer neuen Wohnung so bequem wie möglich machen. Vor Allem, suchen wir ein wenig Luft zu bekommen! Was Teufel! Für Maulwürfe ist das Gas nicht erfunden worden!"

Bei diesen Worten ergriff der sorglose Geselle ein Zündhölzchen, rieb's an der Sohle seines Stiefels und zündete damit die Flamme an dem Hahnen des Behälters, welcher das höchst zusammengepreßte Gas enthielt, das zur Erleuchtung und Erwärmung der Kugel auf sechs Tage und sechs Nächte, hundertvierundvierzig Stunden, ausreichen konnte.

Das also erleuchtete Projektil zeigte sich als wie ein komfortabel eingerichtetes Zimmer mit ausgefütterten Wänden, runden Divans daran, und wie in einem Dom gewölbter Decke.

Die darin enthaltenen Gegenstände, Waffen, Instrumente, Geräte, waren an der Polsterfütterung wohl befestigt, so daß sie den Stoß bei der Abfahrt wohl aushalten konnten. Es waren alle nur ersinnbaren Vorkehrungen getroffen, um ein so tollkühnes Unternehmen glücklich auszuführen.

Michel Ardan untersuchte Alles und erklärte seine volle Zufriedenheit mit der Einrichtung.

"Es ist ein Gefängnis", sagte er, "aber ein Reisegefängniß mit der Erlaubnis durch's Fenster zu sehen; ich wäre im Stande, mich auf hundert Jahre einzumieten! Du lächelst, Barbicane? Hast Du dabei einen Hintergedanken? Meinst Du, dies Gefängnis könne unser Grab sein? Grab, meinetwegen, aber ich möchte es nicht mit dem Mahomed's tauschen, welches ohne Reisezweck in dem Weltraum fährt."

Während Michel Ardan also sprach, trafen Barbicane und Nicholl ihre letzten Vorbereitungen.

Nicholl's Chronometer zeigte zehn Uhr zwanzig Minuten Abends, als die drei Reisenden definitiv in ihr Geschoss eingeschlossen wurden. Der Chronometer war fast auf ein Zehntel einer Sekunde nach dem des Ingenieurs Murchison gerichtet. Barbicane befragte ihn.

"Meine Freunde", sagte er, "es ist zehn Uhr zwanzig Minuten. In siebenundzwanzig Minuten wird Murchison mit dem elektrischen Funken den Draht berühren, welcher mit der Ladung der Columbiade in Verbindung ist. In dem Moment werden wir dann unseren Erdball verlassen. Siebenundzwanzig Minuten also haben wir noch auf der Erde zu bleiben."

"Sechsundzwanzig Minuten und dreißig Sekunden" erwiderte der exakte Nicholl.

"Ei nun!" rief Michel Ardan im besten Humor, "in sechsundzwanzig Minuten läßt sich noch viel fertig bringen! Man kann da noch die wichtigsten politischen und sittlichen Fragen besprechen, und selbst lösen! Sechsundzwanzig wohl verwendete Minuten sind mehr wert, als sechsundzwanzig untätig verlebte Jahre. Etliche Sekunden eines Pascal oder Newton sind kostbarer, als das ganze Leben einer rohen Masse von Dummköpfen ..."

"Und was folgerst Du daraus, ewiger Schwätzer?" fragte der Präsident Barbicane.

"Ich folgere, daß wir noch sechsundzwanzig Minuten haben" erwiderte Ardan.

"Nur noch vierundzwanzig" sagte Nicholl.

"Vierundzwanzig, wenn Du's so genau nimmst, mein wackerer Kapitän," erwiderte Ardan, "vierundzwanzig Minuten, binnen welchen man könnte gründlich ..."

"Michel," sagte Barbicane, "auf unserer Fahrt werden wir reichlich Zeit haben, die schwierigsten Fragen gründlich zu erörtern. Befassen wir uns jetzt mit der Abfahrt."

"Sind wir nicht bereit?"

"Allerdings. Doch sind noch einige Vorkehrungen zu treffen, um die Gewalt des ersten Stoßes möglichst abzuschwächen!"

"Haben wir nicht die Wasserschichten in den zerbrechlichen Verschlägen unter uns, deren Spannkraft uns hinlänglich schützen wird?"

"Das hoffe ich, Michel," erwiderte sanft Barbicane, "aber ganz sicher bin ich dessen doch nicht!"

"Ah! Possen!" rief Michel Ardan. "Er hofft! ... Ist der Sache nicht sicher! ... Und dies klägliche Geständniß erst in dem Moment, da wir bereits eingepackt sind! Da möcht' ich auf und davon!"

"Und wie?" erwiderte Barbicane.

"In der Tat" sagte Michel Ardan, "das ist schwer. Wir sind im Zug und vor Ablauf von vierundzwanzig Minuten wird der Conducteur pfeifen ..."

"Zwanzig Minuten" sagte Nicholl.

Einige Minuten blickten sich die Reisenden einander an. Darauf prüften sie die mitgenommenen Gegenstände.

"Alles ist richtig an seiner Stelle", sagte Barbicane. "Jetzt handelt sich's zu bestimmen, wie wir am Besten Platz nehmen, um den Stoß bei der Abfahrt auszuhalten. Es ist dabei nicht einerlei, in welcher Stellung oder Lage man sich befindet, und man muß soviel wie möglich verhüten, daß das Blut zu stark nach dem Kopfe dringt."

"Richtig" sagte Nicholl.

"Dann" erwiderte Michel Ardan, um die Regel durch das Beispiel zu erklären, "legen wir uns, den Kopf unten und die Füße oben, wie die Clowns im Circus!"

"Nein" sagte Barbicane, "aber auf die Seite müssen wir uns legen. So widerstehen wir am besten dem Stoß. Merken Sie wohl, im Moment der Abfahrt ist's fast einerlei, ob wir drinnen oder davor sind."

"Wenn nur 'fast' einerlei, will ich's zufrieden sein" erwiderte Michel Ardan.

"Stimmen Sie mir bei, Nicholl?" fragte Barbicane.

"Ganz und gar" erwiderte der Kapitän. "Noch dreizehn Minuten und eine halbe."

"Der Nicholl ist kein Mensch" rief Michel, "sondern ein Secundenchronometer ..."

Aber seine Gefährten hörten ihn schon nicht mehr an, und machten ihre letzten Vorkehrungen mit einer Kaltblütigkeit ohne Gleichen. Sie machten's, wie zwei methodische Reisende, die, wenn sie in einen Waggon eingestiegen, sich's so bequem wie möglich zu machen suchen. Man fragt sich wahrhaftig, aus welchem Stoff die Herzen dieser Amerikaner gemacht sind, denen im Angesicht der erschrecklichsten Gefahr der Puls nicht rascher schlägt!

Man hatte drei dicke und solid gepolsterte Lagerstätten in dem Projektil hergerichtet. Nicholl und Barbicane brachten sie auf die Mitte der Scheibe, welche den beweglichen Fußboden bildete; auf diesen sollten die drei Reisenden einige Augenblicke vor der Abfahrt sich hinstrecken.

Während dessen verhielt sich Ardan, der sich nicht ruhig halten konnte, in seinem engen Gefängnis, wie ein Stück Rotwild im Käfig, plauderte mit seinen Freunden, schwatzte mit seinen Hunden, Diana und Trabant, denen er seit Kurzem diese bezeichnenden Namen gegeben hatte.

"He! Diana! He! Trabant!" rief er sie an. "Ihr werdet den Mondhunden die guten Sitten der Erdhunde zu zeigen haben! Ihr werdet dem Hundegeschlecht Ehre machen! Potz! Blitz! Ihr sollt euch mit Monddoggen paaren, daß ich, kommen wir zurück, eine Mischrasse mitbringe, die Furore machen wird!"

"Wenn's dort Hunde gibt" sagte Barbicane.

"Es gibt deren dort" versicherte Michel Ardan, "wie es dort Pferde, Kühe, Esel, Hühner gibt. Ich wette darauf, daß wir Hühner dort antreffen."

"Hundert Dollars, daß wir keine treffen" sagte Nicholl.

"Angenommen, lieber Kapitän" erwiderte Ardan mit einem Händedruck. "Aber Du hast ja schon drei Wetten an unseren Präsidenten verloren, weil die nötigen Geldmittel aufgebracht wurden, weil der Guss gelungen ist, und weil die Columbiade ohne Unfall geladen wurde, das macht sechstausend Dollars."

"Ja" erwiderte Nicholl. "Zehn Uhr siebenunddreißig Minuten und sechs Sekunden."

"Wohl gemerkt, Kapitän. Nun, ehe eine Viertelstunde vorüber ist, wirst Du noch neuntausend Dollars an den Präsidenten zu zahlen haben, viertausend, weil die Columbiade nicht zerspringen wird, und fünftausend, weil die Kugel höher als sechs Meilen in die Lüfte dringen wird."

"Ich habe die Dollars bei mir" erwiderte Nicholl, und klopfte auf seine Tasche, "ich wünsche nur, daß es zum Zahlen komme."

"Nicholl, ich sehe, daß Du ein Mann der Ordnung bist, was mir nie gelingen wollte, aber schließlich, Du hast da eine Reihe Wetten gemacht, wobei Du Dich sehr im Nachtheil befindest, erlaube mir diese Bemerkung."

"Und weshalb?" fragte Nicholl.

"Weil, wenn Du die erste gewinnst, im Falle nämlich die Columbiade springt, und die Kugel mit, Barbicane nicht mehr in der Lage sein wird, Dich bezahlen zu können."

"Mein Einsatz befindet sich auf der Bank zu Baltimore" erwiderte einfach Barbicane, "daß er, wo nicht an Nicholl, seinen Erben ausgezahlt werden kann."

"Was für praktische Leute!" rief Michel Ardan. "Positive Geister! Ich bewundere Euch um so mehr, als ich Euch nicht begreife."

"Zehn Uhr zweiundvierzig" sagte Nicholl.

"Noch über fünf Minuten!" erwiderte Barbicane.

"Ja! Fünf kurze Minuten!" entgegnete Michel Ardan. "Und wir sind eingeschlossen in einem Geschoss innerhalb einer neunhundert Fuß langen Kanone! Und unter diesem Geschoss befinden sich viermalhunderttausend Pfund Schießbaumwolle, die eine Wirkung von sechzehnhunderttausend Pfund gewöhnlichen Pulvers haben! Und Freund Murchison, den Chronometer in der Hand, das Auge unverwandt auf dem Zeiger, den Finger auf dem elektrischen Apparat, zählt die Sekunden, im Begriff uns in die Räume der Planetenwelt zu schleudern!"

"Genug, Michel, genug!" sagte Barbicane mit ernstem Ton. "Machen wir uns bereit. Nur noch einige Augenblicke haben wir bis zum letzten. Einen Handschlag, meine Freunde!"

"Ja!" rief Michel Ardan, mit etwas mehr Rührung, als er kund geben wollte. Die drei kühnen Genossen umarmten sich.

"Gott behüte uns!" sagte der fromme Barbicane.

Michel Ardan und Nicholl streckten sich auf die Polster auf der Mitte des Bodens.

"Zehn Uhr siebenundvierzig", murmelte der Kapitän. Noch zwanzig Sekunden! Barbicane löschte rasch die Gasflamme und legte sich neben seine Kameraden.

Nur die Secundenschläge des Chronometers unterbrachen die tiefste Stille.

Mit einem Mal ein entsetzlicher Stoß, und das Projektil, von sechs Milliarden Liter Gas getrieben, flog empor in den Weltraum.

Zweites Kapitel - Die erste halbe Stunde



Was war erfolgt? Welche Wirkung hatte diese fürchterliche Erschütterung gehabt? Hatte das Genie der Verfertiger des Projektils ein glückliches Resultat erzielt? Wurde der Stoß vermittelst der Sprungfedern, Zapfen, Wasserkissen, zerbrechlichen Verschläge abgeschwächt? War man der erschrecklichen Kraft jener Anfangsgeschwindigkeit von elftausend Meter, welche in einer Sekunde durch ganz Paris oder New-York fahren konnte, Meister geworden? Diese Fragen drängten sich offenbar den tausend Zeugen jener erschütternden Scene auf. Über dem Gedanken an die Reisenden vergaß man den Zweck der Reise! Und wenn einer von ihnen, J.T. Maston z.B. hätte einen Blick in das Projektil werfen können, was würde er gesehen haben?

Nichts damals, denn es war völlig dunkel drinnen. Aber seine cylinderconischen Wände hatten trefflich Widerstand geleistet. Kein Riß, keine Biegung, keine Entstellung. Das staunenswerte Projektil hatte unter der ungeheuren Hitze der Pulververbrennung nicht gelitten, war nicht, wie man zu befürchten schien, zu einem Aluminiumregen zerschmolzen.

Im Innern wenig Unordnung, im Ganzen genommen. Einige Gegenstände waren nach der Decke geschleudert worden; aber die bedeutendsten schienen nicht von dem Stoß gelitten zu haben. Die Befestigungsriemen waren unverletzt. Auf der beweglichen Scheibe, die nach Zertrümmerung der Scheidewände und dem Entweichen des Wassers bis zum Boden herabgesunken war, lagen drei Körper regungslos.

Waren Barbicane, Nicholl und Michel Ardan noch bei Leben? War das Projektil etwas mehr, als ein metallener Sarg, der drei Leichen in den Weltraum trug? ...

Einige Minuten nach der Abfahrt fing einer der Körper an, sich zu regen; seine Arme bewegten sich, sein Kopf richtete sich auf, und es gelang ihm, auf die Knie zu kommen. Es war Michel Ardan. Er betastete sich, stieß ein lautes "He!" aus, dann sprach er:

"Michel Ardan unversehrt. Sehen wir die Andern!"

Der mutige Franzose wollte aufstehen; aber er konnte sich nicht auf den Beinen halten. Sein Kopf wankte, das stark eingedrungene Blut machte ihn blind, er war wie trunken.

"Brr!" machte er. "Das hat auf mich gewirkt, wie zwei Flaschen Cortona, nur daß dieser wohl angenehmer zu trinken ist!"

Darauf strich er mehrmals mit der Hand seine Stirn, rieb sich die Schläfen, und rief mit fester Stimme:

"Nicholl! Barbicane!"

Er wartete ängstlich. Keine Antwort. Nicht ein Atemzug, welcher kundgab, daß seinen Kameraden das Herz noch schlug. Er rief abermals. Dieselbe Stille.

"Teufel! Sie verhalten sich, als seien sie von einem fünften Stock herab auf den Kopf gefallen! Bah!" fuhr er mit der unverwüstlichen Zuversicht, die sich durch nichts stören ließ, fort, "wenn ein Franzose sich auf die Knie zu richten vermochte, so sollten zwei Amerikaner keinen Anstand nehmen, sich wieder auf die Beine zu helfen. Aber vor Allem, klären wir die Sache auf."

Ardan fühlte, wie ihm das Leben wieder zuströmte. Sein Blut wurde ruhiger und kam wieder in den gewöhnten Umlauf. Wiederholte Anstrengungen brachten ihn in's Gleichgewicht. Es gelang ihm aufzustehen, er zog ein Streichhölzchen aus der Tasche, rieb den Phosphor, daß er zündete, näherte sich dem Gashahnen und machte Licht. Der Behälter hatte nicht gelitten, kein Gas war entwichen. Das hätte schon der Geruch angezeigt, und dann hätte Michel Ardan es nicht wagen dürfen, in dem mit Gas angefüllten Raum eine Flamme anzuzünden. Denn es wäre dann eine Explosion entstanden, welche vielleicht vollendet hätte, was die Erschütterung begann.

Sobald die Gasflamme leuchtete, bog sich Ardan über die Körper seiner Gefährten, welche wie leblose Massen übereinander lagen, Nicholl oben, Barbicane unten.

Ardan hob den Kapitän auf, stützte ihn wider einen Divan und rieb ihn kräftig. Dieses mit Verstand geübte Kneten brachte Nicholl wieder zum Bewußtsein; er schlug die Augen auf, bekam sogleich seine Kaltblütigkeit wieder und faßte Ardan's Hand. Dann, umherblickend, fragte er:

"Und Barbicane?"

"Er kommt auch an die Reihe" erwiderte Michel Ardan. "Mit Dir fing ich an, weil Du oben lagst. Jetzt machen wir uns an Barbicane."

Hierauf hoben Ardan und Nicholl den Präsidenten des Gun-Clubs auf und legten ihn auf den Divan. Barbicane schien mehr als seine Genossen gelitten zu haben. Er hatte geblutet, aber Nicholl beruhigte sich, als er sich überzeugte, daß dieser Blutverlust nur von einer leichten Verwundung an der Schulter herrührte. Blos eine Schramme, die er sorgfältig zusammendrückte.

Doch dauerte es geraume Zeit, bis Barbicane wieder zu sich kam, worüber seine beiden Freunde, die ihn unablässig rieben, in Schrecken gerieten.

"Er atmet jedoch", sagte Nicholl, das lauschende Ohr an der Brust des Verwundeten.

"Ja" versetzte Ardan, "er atmet, wie ein Mensch, der diese Tätigkeit täglich zu üben gewohnt war. Reiben, kneten wir, Nicholl, kräftig!"

Und die beiden improvisierten Ärzte machten's so gut, daß Barbicane wieder zum Gebrauch seiner Sinne kam. Er schlug die Augen auf, richtete sich empor, ergriff die Hand seiner Freunde, und sein erstes Wort war:

"Nicholl, sind wir in Bewegung?"

Nicholl und Barbicane sahen sich einander an. Um's Projektil hatten sie sich noch nicht bekümmert. Ihre erste Sorge galt den Reisenden, nicht dem Waggon.

"Wirklich sind wir in Bewegung?" wiederholte Michel Ardan.

"Oder befinden wir uns ruhig auf dem Boden Flo rida's?" fragte Nicholl.

"Oder auf dem Grund des mexikanischen Golf?" fügte Michel Ardan bei.

"Das wäre!" rief der Präsident Barbicane.

Und diese doppelte Vermutung, welche seine Gegner aufstellten, wirkte unmittelbar, ihn wieder zu völligem Bewußtsein zu bringen.