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Ute Daniel

Postheroische
Demokratiegeschichte

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2020 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-977-5

© 2020 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-345-2

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Vorbemerkung:
Doch, man kann aus der Geschichte lernen …

Die Kipppunkte: 1866/67

Deutschland

Pinnwand: Thesen und anderes mehr

Großbritannien

Pinnwand: Thesen und anderes mehr

Davor

Großbritannien

Pinnwand: Thesen und anderes mehr

Deutschland

Pinnwand: Thesen und anderes mehr

Danach

Deutschland

Pinnwand: Thesen und anderes mehr

Großbritannien

Pinnwand: Thesen und anderes mehr

Nachbemerkung

Literatur

Dank

Zur Autorin

Vorbemerkung:
Doch, man kann aus der Geschichte lernen …

… vorausgesetzt, man will es. Vorausgesetzt, man will es auch dann, wenn die Geschichte, die man bei genauerer Betrachtung entdeckt, weder Patentrezepte liefert noch die kindliche Vorstellung bedient, sie laufe irgendwie auf uns zu: Sie lasse die Menschheit Fehler über Fehler, Fortschritte über Fortschritte machen, damit wir Heutigen angeliefert bekommen, was sie für uns im Gepäck hat.

Diese Lieferando-Version der Geschichte tritt heute mit besonderer Hartnäckigkeit beim Thema Demokratie auf.1 Wie weiland am französischen Königshof der Frühen Neuzeit die Kronprinzen literarische Werke in kindgerecht bereinigter Fassung ad usum Delphini – zum Gebrauch des Dauphins, des Thronfolgers – zu lesen bekamen, erfahren wir heute lesend die Geschichte unserer Form der parlamentarischen Demokratie in einem infantilisierenden Modus der Verehrung. Diese Regierungsform sei auf uns gekommen, weil unsere Vorfahren für ihre Rechte gekämpft hätten, allen voran für das Wahlrecht. Unter dem Druck von Wahlrechts- und Protestbewegungen, von mutigen Frauen und Männern des Bürgertums und der Arbeiterschaft, sei den Fürsten und herrschenden Schichten früherer Zeiten abgerungen worden, der breiten Bevölkerung Mitspracherechte einzuräumen. Deswegen sei – je nach Lesart seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert oder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – eine Demokratisierung von Politik und Gesellschaft unabdingbar geworden und habe sich im 20. Jahrhundert in Gestalt der parlamentarischen Demokratie- und Regierungsform verallgemeinert. So seien Rechtsstaat, Sozialstaat und politische Partizipation möglich geworden, mithin ungefähr alles, was uns heute wichtig ist.

Tatsächlich gab es diese mutigen Männer und Frauen, diese Protestbewegungen und Wahlrechtskämpfe. Sie können gar nicht hoch genug gepriesen werden. Ihnen allen jedoch war gemeinsam, dass ihr Einfluss auf die real existierende Politik des 19. Jahrhunderts marginal war. Die parlamentarische Regierungsform, die in der Tat im 19. Jahrhundert entstand und damit die eigentliche Vorgeschichte unserer heutigen Regierungsform ist, ging folgerichtig auch weniger aus partizipatorisch-demokratischen als aus gänzlich anders gelagerten Gründen hervor. Diesen Gründen und Zusammenhängen gehe ich im folgenden Essay nach. Sie ergeben eine postheroische Politikgeschichte. Postheroisch, weil der Erzählfaden nicht von heutigen demokratischen Werthorizonten aus rückwärts gespannt wird, politisches Handeln früherer Zeit also nicht im anachronistischen Licht heutiger Präferenzen erscheint. Stattdessen frage ich danach, in welchem Licht den politischen Akteuren selbst ihr Tun und Lassen erschien, schreibe also Geschichte vorwärts statt rückwärts. Das löst, wie sich zeigen wird, allerhand Schein-Rätsel, die die »heroische« Demokratiegeschichte aufwirft. Über die Tatsache beispielsweise, dass es vielfach Konservative waren, die Wahlrechtserweiterungen befürworteten oder selbst durchführten, muss nur so lange gerätselt werden, wie das Wahlrecht als Indikator für Demokratisierungstendenzen betrachtet wird. Denn erst diese Betrachtungsweise ist es, die durch und durch konservative Wahlrechtserweiterer wie Otto von Bismarck oder Benjamin Disraeli in einem irritierenden Licht erscheinen lässt.

Die postheroische Geschichte übermittelt darüber hinaus eine andere Flaschenpost der Vergangenheit an die Gegenwart2 als die heroische. Letztere fordert uns zum bedingungslosen Bewahren der heute real existierenden parlamentarischen Regierungsform um jeden Preis auf, nach dem Motto: Bloß nichts fallen lassen, Kind, Oma und Opa haben lange dafür arbeiten müssen.

Die postheroische Geschichte der Demokratie dagegen wird anhand des britischen und deutschen Falls zeigen, dass die Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems im 19. Jahrhundert die Antwort auf ein ganz konkretes Problem der damaligen politischen Praxis war: nämlich das Problem, im Zeitalter der Parlamente stabile Regierungen hervorzubringen. Im Vereinigten Königreich wurde dieses Problem durch die De-facto-Fusion von Parlamentsmehrheit und Kabinett gelöst. Die so entstehenden und gestützten Regierungen der Wirtschafts- und Weltmacht Großbritannien waren die stärksten der britischen Geschichte. Der Handlungseinheit von Regierung plus Parlamentsmehrheit waren, wie der Jurist und Tory-Politiker William Blackstone bereits Mitte des 18. Jahrhunderts feststellte – also zu einem Zeitpunkt, als ihre gesellschaftliche Wirkmacht derjenigen, die sie um 1900 haben würde, noch weit nachstand –, nur noch physische Grenzen gesetzt: »It can, in short, do every thing that is not naturally impossible.«3

In Deutschland wurde das Problem erkannt und als dessen Kern, genau wie in Großbritannien, die Koordination von Parlamentsmehrheit und Exekutive gesehen. Doch blieben die deutschen Regierungen – im Reich und in den Einzelstaaten – im Gegensatz zu den britischen Verhältnissen eher schwache und schemenhafte Konfigurationen. Mit wenigen Ausnahmen – eine von ihnen war Bismarck – wurden die deutschen Regierungschefs zwischen Parlament und Potentat aufgerieben, statt ihre ungemütliche Position zwischen Parlament und fürstlichem Landesherrn zu einer Stärke machen zu können.

Welche Botschaft enthält diese Flaschenpost der Geschichte für uns? Dass das 19. Jahrhundert auch politikgeschichtlich ein Laboratorium der Moderne war. Doch in dessen Petrischalen wuchs nicht notwendigerweise das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle heran, und schon gar nicht, was heute darüber hinaus mit dem Begriff der Demokratie verbunden wird, wie Anerkennung allgemeiner Menschenrechte, soziale Sicherung oder Angleichung der Lebensverhältnisse. Das eine wie das andere wurde erst durch die Auswirkungen zweier Weltkriege und den zunehmenden gesellschaftlichen Wohlstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ermöglicht. Was sich in den Petrischalen des 19. Jahrhunderts herauskristallisierte, war vielmehr eine Praxis der Bildung, Erhaltung und Beendigung von Regierungen, die die politischen Systeme Deutschlands, Großbritanniens und anderer Länder neu zu konfigurieren begann. Diese Praxis war von Land zu Land unterschiedlich, widersprach aber überall den vorherrschenden Verfassungstheorien. Für diese Praxis werden im Folgenden die Ausdrücke »parlamentarisches Regieren« oder »parlamentarisches Regierungssystem« verwendet werden, die alle Ausprägungen des Regierens mit Parlament umfassen sollen, von ad hoc und nur lose geknüpften Fäden zwischen Regierungen und Gruppen von Abgeordneten beziehungsweise Fraktionen auf der einen Seite des Spektrums bis zur singulären De-facto-Fusion von Unterhausmehrheit und aus ihr hervorgehender Exekutive in Westminster auf der anderen Seite.

Wahlrechtserweiterungen waren, wo es sie gab, Teil dieser sich verändernden Praktiken und hatten das Ziel, Parlamente zu bilden, mit denen regiert werden konnte. Die Veränderungen folgten keinem Masterplan – das Labor hatte, um im Bild zu bleiben, keinen Versuchsleiter. Die Herausbildung des parlamentarischen Regierungssystems vollzog sich eher wie in der Geschichte vom Frosch, der in die Milchkanne gefallen ist, genauer, von Fröschen und Milchkannen im Plural, weil die Kontextbedingungen von Land zu Land unterschiedlich waren. Die Frösche, so geht die Geschichte, strampeln verzweifelt, um in der Milch nicht unterzugehen – bis die Milch zu Butter geworden ist und sie aus ihrer jeweiligen Kanne hüpfen können.

Was wir vom 19. Jahrhundert tatsächlich vorgefertigt bekommen haben, ist eine bestimmte Regierungsform, die, je nachdem, mit mehr oder weniger ausgedehntem Wahlrecht, mit mehr oder weniger Partizipationsmöglichkeiten, mit – in unserem Sinn – mehr oder weniger demokratischen Werthorizonten verbunden sein kann. Parlamentarisierung und Demokratisierung können, müssen jedoch nicht zusammenfallen. Heute wird in allen Segmenten des bisherigen politischen Orientierungsspektrums, von rechts über die Mitte bis links, Kritik an der real existierenden Demokratie lauter. Das parlamentarische Regierungssystem ist nicht mehr selbstverständlich, es ist frag-würdig geworden. Dieses Schicksal ereilt jedes politische System irgendwann. Die Frage ist immer: Was wird daraus gemacht? Die Antwort einer Historikerin ist erwartbar: Schauen wir einmal, was eigentlich das bislang Selbstverständliche war und wie es so selbstverständlich geworden ist.

Die Botschaft in der Flaschenpost lautet also: Statt, was auf uns gekommen ist, reflexhaft zu konservieren, ist es an der Zeit, unsentimental zu schauen, was es tatsächlich ist. Und was davon bewahrenswert oder aber veränderungsbedürftig ist. Das könnte dann beispielsweise dazu führen, dass die alten Träume von stärkerer Kontrolle der politischen Entscheidergruppen »von unten« – Träume der demokratischen Avantgarde des 19. Jahrhunderts, die nie Teil des überkommenen Butterbergs waren – unter heutigen Bedingungen wieder aufgegriffen werden. Bedingungen, die sozial, kulturell und kommunikationstechnisch viel mehr möglich machen, als im 19. Jahrhundert vorstellbar war. Patentrezepte dafür liefert die Geschichte wie üblich nicht. Sie hilft nur dabei, die Demokratiegeschichte ad usum Delphini in eine solche zu verwandeln, die uns Heutigen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten zurückgibt, statt auf die alternativlose Opposition bedingungslosen Bewahrens oder ebenso bedingungslosen Zurückweisens des parlamentarischen Regierungssystems beschränkt zu bleiben.

Die Geschichtsschreibung, insbesondere die Politikgeschichtsschreibung, hat es immer mit menschlichen Akteuren zu tun. Das legt den Trugschluss nahe, aus dem Tun und Lassen dieser Akteure folge, was später geschieht. Die extreme Form dieses Trugschlusses unterstellt den Handlungen der Akteure nicht nur kausale Wirkmacht, sondern auch intentionales Hinarbeiten auf das, was später der Fall sein wird. In der Politikgeschichtsschreibung wimmelt es demzufolge von Masterplänen aller Art, also etwa: Bismarck habe jahrelang auf die Reichseinigung oder Disraeli auf die Tory-Demokratie hingearbeitet. Die politische Praxis resultiert aber nicht primär aus mittel- und langfristigen Strategien, weder heute noch im 19. Jahrhundert. Was immer Politiker für Wünsche und Pläne haben mochten, ihr praktisches Tun richtete sich nach den Problemen, die sie aktuell jeweils hatten.

Um derartige Trugschlüsse zu erschweren, ist das erste Kapitel nicht, sagen wir, »Die Schwellenjahre 1866/67« benannt, sondern »Die Kipppunkte: 1866/67«. »Kipppunkt« als wissenschaftlicher Terminus ist in Disziplinen wie der Klimaforschung gängig, wo er Situationen bezeichnet, in denen ein System in einen neuen Zustand mit andersgearteten Eigendynamiken als zuvor versetzt wird. Solche Situationen, so meine These, gab es 1866 im deutschen und 1867 im britischen politischen System. Die Metapher vom Kipppunkt soll, statt zielgerichteter Prozesse oder menschlicher Akteure, die eine Schwelle überschreiten – beides steckt im »Schwellenjahr« –, evozieren, dass hier schlicht neue Situationen entstanden, deren Eigendynamiken noch unbekannt waren.

Das galt auch für die politischen Akteure. Sie reagierten auf die alte Situation, die aus unterschiedlichen Gründen für sie unbefriedigend war. Die Akteure sind also wichtig, aber sie haben die neuen Situationen in der Form, wie sie sich – nicht auf Knopfdruck, sondern im Lauf der Jahrzehnte nach dem, was ich »Kipppunkte« nenne – herausbilden würden, nicht im Blick gehabt und in der Form, in der sie zustande kamen, auch nicht gewollt. Entscheidend waren sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien konservative Akteure, die in Deutschland im Jahr 1866 und in Großbritannien 1867 auf ihre jeweilige spezifische Situation reagierten. Die dadurch erzeugten neuen Dynamiken des politischen Systems waren im Gegensatz zum Klima zwar wiederum von menschlichen Akteuren abhängig, jedoch nicht mehr umkehrbar.

Im Kapitel »Davor« wird geschildert, wie vor 1866/67 in den politischen Klassen beider Länder nach Antworten auf die Frage gesucht wurde, wie mit Parlamenten regiert werden könne. Auf den Britischen Inseln wurde die Frage seit dem frühen 19. Jahrhundert akut, obwohl das Parlament in Westminster bereits eine lange Tradition und seit der Glorious Revolution von 1688/89 direkten Anteil an den Regierungsgeschäften hatte. Seit den 1780er Jahren verlor die britische Krone im Zuge der administrativen und finanziellen Reformen, die die Staatsfinanzen zu konsolidieren suchten, an Zugriff auf finanzielle Ressourcen, mit denen sie bis dahin Pfründen, Ämter und Zuwendungen finanzierte, die auch Abgeordneten des House of Commons zugutekamen. Nicht zuletzt damit wurde die Mehrheit stabilisiert, die die königlichen Regierungen stützten. Der Handlungsspielraum des House of Commons wurde seither größer. Es dauerte Jahrzehnte, bis nach dem Schwinden des monarchischen Einflusses neue Wege gefunden wurden, die sehr selbstbewussten Abgeordneten zu disziplinieren und den Regierungen stärkeres politisches Gewicht zu verleihen.

In Deutschland verallgemeinerten sich Verfassungen und Parlamente nach 1815 in den meisten Staaten mit Ausnahme Preußens und der Habsburgermonarchie. Sie wurden eingepflegt in eine Umgebung, die weiterhin durch das monarchische Prinzip geprägt war – also die herausgehobene Position der Monarchen, welche, ob als Herrscher von Großstaaten oder aber deutscher Zwergfürstentümer, weiterhin das Prärogativ, also Vorrecht reklamierten, ihre Regierungen ein- und abzusetzen, und die, wo sie eigene Truppen finanzieren konnten, über Finanzierung und Aufbau ihres Militärs ohne parlamentarische Mitwirkung entschieden. Die Landesherren mussten jedoch vielerorts feststellen, dass die Existenz von Parlamenten und der sich in ihnen bildenden parteipolitischen Gruppierungen das politische System veränderte. Die Revolution von 1848/49 führte ihnen vor Augen, was ihre Parlamentarier alles gelernt hatten. Diese Erfahrung war nicht wieder rückgängig zu machen, auch wenn die Revolution 1849 militärisch niedergeschlagen wurde. Die Abgeordneten mussten allerdings die Füße einige Jahre stillhalten. Die vor 1848 von Fürsten und ihren Ministern etablierten Praktiken, gefügige Parlamentsmehrheiten zu erzeugen, wurden fortgesetzt. Seit Ende der 1850er Jahre jedoch stieß dieses politische System an seine Grenzen.

Das Kapitel »Danach« handelt von der neuen Situation nach 1866/67 und ihren Eigendynamiken, aus denen entstand, was man – hinsichtlich Großbritanniens – die Parteienregierung (party government) nennt und welche Strukturprinzipien ausbildete, die auch diejenigen der parlamentarischen Regierungsweise bis heute sind. In Deutschland entstand etwas, für das keine Bezeichnung in einem Begriff verfügbar ist: das Verfugen des monarchischen Privilegs, die Regierungen zu ernennen und zu entlassen, mit Parlamenten und Parteien, ohne welche nicht regiert werden konnte. Parlamente und Parteien waren also systemrelevant. Sie konnten den fürstlichen Regierungen nachhaltige Probleme verschaffen und taten dies auch im Reich und in vielen Ländern. Was sie jedoch nicht konnten, war, den Wählern politische Gestaltungsmacht und den Abgeordneten Regierungsposten und andere Karrierechancen zu versprechen. Sie waren also systemrelevant und gleichzeitig außerhalb des Systems.

Die kontrastierende Gegenüberstellung zweier Länder soll helfen, nationale Spezifika und systemische Zusammenhänge der Politik des 19. Jahrhunderts besser unterscheiden zu können. Die Auswahl von Großbritannien und Deutschland für diesen Zweck war geradezu ein Muss. Spielte doch das Müssen nach 1945 in der deutschen Politikgeschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert jahrzehntelang eine so große Rolle, dass es bis heute nachwirkt. Das parlamentarische System des Deutschen Kaiserreichs 1871–1918 wurde anhand des Abstands zu demjenigen in Großbritannien beurteilt: Dass dort die Regierungen aus dem Parlament herausgebildet wurden und dem Parlament gegenüber verantwortlich waren, war – wie es hieß – die Latte, die auch der Reichstag hätte überspringen müssen, die er jedoch immer wieder riss. Diese merkwürdige normative Vorgabe – wer in aller Welt hat denn bloß die Latte da hingelegt? – beruhte auf der Vorstellung, es gebe einen Entwicklungspfad hin zum richtigen parlamentarischen und/oder demokratischen politischen System. Auf diesem Pfad sei Großbritannien um 1900 weit vorangeschritten und Deutschland zurückgeblieben.

Zwar ist dieses Denken in Entwicklungslogiken mit normativen Zielvorgaben mittlerweile etwas aus der Übung gekommen. Doch zeigen sich dessen Folgen weiterhin in mitunter grotesken Fehlwahrnehmungen sowohl der britischen als auch der deutschen Version parlamentarischen Regierens (weswegen manches an der folgenden Darstellung überraschen mag) und in der Überbetonung ihrer Unterschiedlichkeit – bei gleichzeitiger Außerachtlassung ihrer Ähnlichkeiten. Mit der auffälligsten, aber selten gewürdigten Ähnlichkeit beginnt dieser Essay: nämlich mit dem nahezu zeitgleichen Schwenk sowohl der (preußisch-)deutschen als auch der britischen Politik in Richtung Wahlrechtserweiterung, der in beiden Fällen ausgerechnet von den Konservativen ausgelöst wurde, die bis dahin nicht als Freunde erweiterter politischer Partizipation hervorgetreten waren. Dieser Schwenk hatte sehr viel mit Fragen des Regierenkönnens zu tun.

1Systematisch ausformuliert wurde dieses methodologische Problem bislang eher von der historisch arbeitenden Politikwissenschaft als von der Geschichtswissenschaft; vgl. u. a. Ahmed, Reading History Forward, in: Comparative Political Studies 43 (2010), H. 8/9, S. 1059–1088; Capoccia/Ziblatt, The Historical Turn in Democratization Studies, in: ebd., S. 931–968; Ziblatt, How Did Europe Democratize?, in: World Politics 58 (2006), H. 2, S. 311–338.

2Diese Metapher verdanke ich Agnes Heller, A Theory of History, Kapitel 5: »Past, present and future in historiography«. Die ungarische Philosophin verwendet in diesem grandiosen Kapitel die Handlung des Romans »Die Kinder des Kapitän Grant« von Jules Verne, in der eine Flaschenpost zentral ist, als Metapher für eine selbstreflexive Geschichtstheorie.

3Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 1, S. 156.

Die Kipppunkte: 1866/67

Deutschland

Mitte April 1866 kündigte das Berliner Satireblatt Kladderadatsch seinen »Abschied vom Leser« an:

»Seit bald zwanzig Jahren sind wir uns bewusst, für die Heiterkeit in Deutschland nach Kräften gewirkt zu haben. Unzählige Concurrenzen sind erstanden und – verschwunden. Alle humoristischen Blätter Deutschlands […] haben sich unserer Formen bemächtigt; manche derselben leben von dem Inhalt unserer älteren Jahrgänge. Der Kreis unserer Leser ist in stetem Wachsen begriffen; und dennoch, dennoch müssen wir – Abschied von ihnen nehmen! Ein harter Schlag hat uns getroffen! Unsere Vernichtung ist ausgesprochen! […] Das Ministerium Bismarck appellirt an die Deutsche Nation und stützt sich auf das Volk!

Hahahaha! Wer lacht da? Ganz Europa und die angränzenden Welttheile!

Einer derartigen Concurrenz sind wir nicht gewachsen!«4

Auch wenn der Ausdruck Realsatire im 19. Jahrhundert noch nicht zur Verfügung stand – ihre Diagnose tat dies sehr wohl und konnte gewieften Satirikern wie den Redakteuren des Berliner Kladderadatsch als Anlass für die Annoncierung der eigenen Abdankung dienen. Glücklicherweise handelte es sich nicht um eine Realabdankung, die Zeitschrift erschien noch bis 1944.

Was war geschehen? Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck hatte im Frühjahr 1866 verlautbaren lassen, Preußen werde sich für ein gesamtdeutsches Parlament mit weitreichenden Befugnissen starkmachen. Gewählt werden solle es nach dem Wahlrecht der Frankfurter Nationalverfassung von 1849. Von einer kommenden deutschen Einigung solle Österreich ausgeschlossen sein. Das waren gleich mehrere Sensationen.

Erstens kündigte Bismarck damit an, dass Preußen sich an die Spitze der nationalen Bestrebungen setzen wollte, um die die beiden Großmächte des Deutschen Bundes, Preußen und Österreich, seit einiger Zeit intensiv warben. Die Konkurrenz zwischen Berlin und Wien um die Vormacht in Deutschland war seit Monaten eskaliert und trieb nun erkennbar auf eine kriegerische Lösung zu. Die parlamentarischen Versprechungen des preußischen Ministerpräsidenten richteten sich an die liberalen Anhänger einer deutschen Einigung, die in den zahlreichen deutschen Landtagen – nicht zuletzt im preußischen – vertreten waren. Gleichzeitig war die Einrichtung eines Parlaments Teil der Bismarck’schen Reformpläne für den Deutschen Bund. Dessen Bundesversammlung in Frankfurt am Main, ein Gesandtenkongress der deutschen Fürsten, konnte in Grundsatzfragen nur einstimmig entscheiden. Jeder deutsche Fürst hatte also ein Vetorecht. Die Fürsten waren aber, wie sich 1848/49 gezeigt hatte, keine Anhänger einer deutschen Einigung, unter wessen Vorherrschaft auch immer. Sie bestanden auf ihrer Souveränität, die durch einen engeren Reichsverbund eingeschränkt werden würde. Bismarck wollte ein deutsches Parlament, wo Mehrheitsbeschlüsse an die Stelle der Einstimmigkeit treten und »die partikularen Interessen einander neutralisieren« würden. Die »Zitadellen des Partikularismus«, nämlich die Verfassungen und Parlamente der deutschen Staaten, würden so geschliffen werden.5 Da die wichtigsten dieser Zitadellen in den süddeutschen Staaten standen, die dem 1867 konstituierten Norddeutschen Bund nicht angehörten, würde Bismarck nach der Wende von 1866 besonders am schnellen Zusammentritt des Zollparlaments gelegen sein, das zwar hinsichtlich seiner Befugnisse beschränkt, jedoch ebenfalls nach dem allgemeinen, gleichen und direkten Männerwahlrecht gewählt sein und auch von den süddeutschen Staaten beschickt werden würde.

Zum Zweiten holte Bismarck mit dem Versprechen eines gesamtdeutschen Parlaments und dessen Wahl nach dem Paulskirchenwahlrecht von 1849 eine Totgeglaubte in die Politik zurück: die deutsche Revolution. Sie ungeschehen zu machen war das offizielle Programm der 1850er Jahre, der sogenannten Reaktionsära, gewesen. Der Deutsche Bund war wiederhergestellt und immer noch repressionsfähig. Der Grundrechtskatalog der Paulskirche wurde 1851 aufgehoben. Der Bundesreaktionsbeschluss desselben Jahres machte den Deutschen Bund zur übergeordneten Instanz für die Verfolgung all dessen, was als revolutionär galt, in jedem einzelnen Bundesstaat. Revolutionär waren nach dessen Lesart unter anderem die Zulassung politischer Vereine oder Parteien, ein volles Budgetrecht der Landtage, zu weitgehende Pressefreiheit, die Vereidigung des Militärs auf die Verfassung und ein allgemeines, gleiches Wahlrecht.

In Kurhessen wurden diese antirevolutionären Prinzipien sogar militärisch exekutiert, als 1850 ein Verfassungskonflikt zwischen Landtag und Kurfürst Friedrich Wilhelm von Hessen-Kassel ausbrach. Es ging, wie in den 1860er Jahren in Preußen, um die Bewilligung des Landesetats, der sich die Landstände verweigerten. Ohne Bewilligung des Landtags durfte der Kurfürst laut Verfassung keine Steuern erheben. Der Kurfürst verhängte daraufhin den Kriegszustand, was zu einer in Deutschland ganz unerhörten Folge führte: Das Militär verweigerte den Gehorsam, unter Hinweis auf den Eid, den alle Offiziere auf die Verfassung abgelegt hatten. Der Kurfürst floh aus seiner Residenz Kassel und rief den Bundestag an, der Kurhessen mit preußischen, österreichischen und bayerischen Truppen belegte. Landtagsmitglieder, die für die Budgetverweigerung eingetreten waren, wurden, soweit sie nicht bereits geflohen waren, festgenommen. Der Kurfürst hob verfassungswidrig den Eid der Offiziere auf die Verfassung eigenmächtig auf, und der Deutsche Bund schrieb den Kurhessen vorsichtshalber gleich selbst eine neue Verfassung, die Friedrich Wilhelm 1852 oktroyierte. Sie enthielt statt des vergleichsweise liberalen Zensuswahlrechts der Verfassung von 1831 ein beschränktes Wahlrecht, das Grundbesitzer privilegierte.