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Patrice C. McMahon

Das NGO-Spiel

Zur ambivalenten Rolle von Hilfsorganisationen in Postkonfliktländern

Aus dem Englischen
von Ursel Schäfer

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Für Hana und Julia

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-955-3

© der deutschen Ausgabe 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-331-5

© der Originalausgabe 2017 by Cornell University

Published by Arrangement with Cornell University Press, Ithaca, NY USA

Titel der Originalausgabe: »The NGO-Game.

Post-Conflict Peacebuilding in the Balkans and Beyond«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen.

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Inhalt

Abkürzungen

Einführung – Aufstieg und Niedergang bei der Friedenskonsolidierung

Die Realität der NGOs

Das Versprechen der NGOs

NGO-Spiel

Was steht auf dem Spiel?

Von Randfiguren zu Geheimwaffen

Der Plan

Unsichere Zeiten

Neue Kriege

Die Notwendigkeit zu handeln

Von Management zu Transformation

Ins Nichts

Die Ursprünge des Wachstums

Von Macht und Versprechungen

Was die Zahlen sagen

Geld für etwas

Wichtige Beziehungen

Schleichende Ausweitung der Mission

Die Realitäten der NGOs

Bosnien – Viel Lärm um NGOs

Prioritäten und politische Strategien

Das Zauberwort »Zivilgesellschaft«

Das große Experiment

Schwierige Wahrheiten

Von Rettern zu etwas anderem

Kosovo – Kopieren, einfügen und löschen

Internationale Prioritäten und Politiken

Stärkung und Transformation der Zivilgesellschaft

Der humanitäre Zirkus

Jenseits des Spektakels

Von Friedenskonsolidierung zu wohlwollender Kolonialherrschaft

Schluss – Das Ende des Goldenen Zeitalters

Liberale Friedenskonsolidierung in Krisensituationen

Über den Balkan hinaus

Über Konflikt und Friedenskonsolidierung hinaus

Die Zukunft der NGOs

Bibliografie

Interviews

Sekundärliteratur

Danksagung

Zur Autorin

»Frieden ist zu wichtig, um ihn allein den Staaten zu überlassen.«

Boutros Boutros-Ghali, 1994

Abkürzungen

CRS

Catholic Relief Services

 

(Hilfsorganisation der Katholischen Kirche in Amerika)

DAC

Development Assistance Committee

 

(Entwicklungshilfeausschuss der OECD)

EAR

European Agency for Reconstruction

 

(Europäische Agentur für den Wiederaufbau)

ECLO

European Commission Liaison Office

 

(Verbindungsbüro der Europäischen Kommission)

ECOSOC

Economic and Social Council

 

(Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen)

EU

Europäische Union

EULEX

European Union Rule of Law Mission in Kosovo

 

(Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo)

GHP

Global Humanitarian Platform

 

(Plattform der Vereinten Nationen für humanitäre Hilfe)

IB

Internationale Beziehungen

ICNL

International Center for Not-for-Profit Law (Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen bei Rechtsfragen)

ICO

International Civilian Office

 

(Internationale Zivilverwaltung im Kosovo)

ICVA

International Council of Voluntary Agencies

 

(Plattform für die Zusammenarbeit von NGOs und anderen humanitären Akteur_innen)

IGO

Intergovernmental or International Organization

 

(Zwischenstaatliche oder internationale Organisation)

IKRK

Internationales Komitee vom Roten Kreuz

INGO

International Non-governmental Organization

 

(Internationale Nichtregierungsorganisation)

KFOR

Kosovo Protection Force

 

(Internationale Friedenstruppe im Kosovo)

KWN

Kosovo Women’s Network (Frauenorganisation)

KSZE

Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

KYN

Kosovo Youth Network (Jugendorganisation)

LNGO

Local Non-governmental Organization

 

(Lokale Nichtregierungsorganisation)

MBO

Member Benefit Organization

NGO

Non-governmental Organization

 

(Nichtregierungsorganisation)

NSA

Nichtstaatlicher Akteur

NPCG

NGO Peacebuilding Coordination Group (Koordinierungsgruppe von NGOs, die Friedenskonsolidierung betreiben)

OECD

Organization for Economic Cooperation and Development

 

(Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

OSZE

Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

PBO

Public Benefit Organization (gemeinnützige Organisation)

PISG

Provisional Institutions of Self-Government

 

(Vorläufige Selbstverwaltunginstitutionen)

PVO

Private Voluntary Organization

 

(Private Freiwilligenorganisation)

SRSG

Special Representative of the Secretary General

 

(UN-Sonderbeauftragter)

UNHCR

United Nations High Commissioner for Refugees

 

(Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen)

UNDP

United Nations Development Program

 

(Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen)

UNMIK

United Nations Interim Administration Mission in Kosovo

 

(Übergangsverwaltungsmission der Vereinten Nationen)

USAID

United States Agency for International Development (Behörde der Vereinigten Staaten für Internationale Entwicklung)

ZGO

Zivilgesellschaftliche Organisation

Einführung – Aufstieg und Niedergang bei der Friedenskonsolidierung

In den meisten Postkonfliktländern sind Nichtregierungsorganisationen (NGOs) allgegenwärtig, aber ihre Anwesenheit wird missverstanden und ihr Einfluss überschätzt. Ich besuchte Bosnien-Herzegowina erstmals im Jahr 2000, fast fünf Jahre nach dem Ende der schrecklichen Gewalt. Damals war ich fasziniert von den NGOs, auf die ich in allen Städten stieß. Ich kehrte noch viele Male nach Bosnien zurück und betrieb Feldforschung in anderen Postkonfliktländern wie Vietnam, Kambodscha und Kosovo, und dabei fielen mir interessante, aber verstörende Muster in den verschiedenen Ländern auf. Internationale Akteur_innen und internationale NGOs (INGOs) kamen in ein Land, lokale NGOs (LNGOs) schossen überall aus dem Boden, viel Geld und Energie flossen in die Gründung und Stärkung solcher Organisationen. Mit der Zeit ließ jedoch die Begeisterung für die Projekte nach, die internationalen Akteur_innen und NGOs gingen nach Hause, und die lokalen Gruppen verschwanden. Begeisterung und Enthusiasmus für die Friedenskonsolidierung verwandelten sich in Enttäuschung, womöglich sogar Zynismus über die Akteur_innen und ihre Aktivitäten. Nach ein paar Jahren waren die NGOs nicht mehr hilfreiche Verbündete, sondern Teil des Problems.

Forscher_innen und Politiker_innen neigen dazu, das Engagement von NGOs in Postkonfliktländern zu akzeptieren und sogar zu loben, aber nur selten prüfen sie, was diese Akteur_innen tun und wie sich ihre Anwesenheit im Alltag auswirkt. Genau davon handelt dieses Buch, das sich auf die unbeabsichtigten und oft negativen Ergebnisse internationaler Friedenskonsolidierung konzentriert. Es wird untersucht, wie der Aufstieg von NGOs, die an der internationalen Friedenskonsolidierung mitwirken, oder der NGO-Boom, wie ich es nenne, Postkonfliktgesellschaften prägt. Vor allem werden sowohl die Entwicklung als auch das Verhalten lokaler Akteur_innen näher in den Blick genommen. Die Friedenskonsolidierung auf dem Balkan hat eine geradezu explosionsartige Vermehrung großer und kleiner NGOs mit sich gebracht, doch aus diesem Prozess und diesen Organisationen gingen keine hinreichend starken heimischen Akteur_innen hervor, die liberalen Zielen und der Schaffung von Frieden verpflichtet waren – wie die internationalen Akteur_innen gehofft und versprochen hatten.

Stattdessen folgte der Niedergang der NGOs. Internationale NGOs taten, was ihrer Ansicht nach der Stabilität und liberalen Demokratie am meisten nützte, und lokale NGOs, die etwas tun, aber sich auch Geld sichern wollten, folgten ihrem Vorbild und konkurrierten dabei untereinander um internationale Aufmerksamkeit und ausländisches Geld. Als das Interesse nachließ und das Geld der Geldgeber anderswohin floss, verschwanden die NGOs, manchmal nach und nach, manchmal von einem Tag auf den anderen. Für Postkonfliktländer bedeutet der Ausfall von NGOs, dass eine »losgelöste Zivilgesellschaft« entsteht oder ein Umfeld, in dem lokale Gruppen bei der Suche nach Unterstützung und Orientierung den Blick eher nach außen richten statt ins Innere der Gesellschaften. Außerdem schürt diese Entwicklung Enttäuschung über die NGOs und Desillusionierung über die liberale Friedenskonsolidierung. Deshalb sind NGOs bei der internationalen Friedenskonsolidierung Teil des Problems geworden und nicht der Lösung.

Zahlreiche Begriffe sind im Umlauf für das, was ich abwechselnd Postkonfliktfriedenskonsolidierung, internationale oder liberale Friedenskonsolidierung nenne, und andere Autor_innen haben sehr ausführlich die Unterschiede zwischen den Begriffen und die vielen Alternativen diskutiert.1 Es mag tatsächlich Unterschiede geben, aber ich verwende eine ähnliche Definition wie die Vereinten Nationen und konzentriere mich darauf, wie westliche Regierungen und internationale Organisationen vorgehen, wenn sie »durch sehr spezifische politische, ökonomische und gesellschaftliche Institutionen und Praktiken Frieden wiederherstellen und aufbauen« wollen.2 Aber anders als die meisten anderen, die sich mit Friedenskonsolidierung in Postkonfliktsituationen, Wiederaufbau und Staatenbildung befassen, interessieren mich am meisten die Rolle und das Verhalten von nichtstaatlichen Organisationen oder NGOs in dem Prozess, eine Bezeichnung, die ebenfalls umstritten und verwirrend ist. Weil andere Nichtregierungsorganisationen seziert, zerlegt und definiert haben, »ohne dass jemand damit sonderlich zufrieden war«3, verzichte ich darauf. Stattdessen übernehme ich die weit gefasste Definition der UN, wonach NGOs einfach alle nichtstaatlichen, nicht profitorientierten Organisationen sind, die für das Allgemeinwohl arbeiten.

Humanitäre NGOs sind seit Langem in Konfliktgebieten aktiv, leisten lebensrettende Hilfe, kümmern sich um leidende Menschen und um Schutz für obdachlos gewordene. In mancher Hinsicht sind ihr Engagement und ihre Aktivitäten nicht neu. Doch die Gruppen, die mir in Bosnien und anderen Postkonfliktsituationen begegnet sind, waren keine traditionellen humanitären NGOs, und ihre Aktivitäten ließen sich nicht leicht zusammenfassen. Manche halfen Geflüchteten und Menschen in Not, aber andere arbeiteten für eine Reform der Bildung, für eine Erinnerungskultur oder für den Aufbau der Demokratie. In fast jeder Stadt, die ich besuchte, gab es NGOs, die sich um Frauenrechte kümmerten. Ob internationale oder lokale Organisationen, implizit nahmen sie alle für sich in Anspruch, progressive Akteur_innen zu sein, die an der Seite westlicher Regierungen und internationaler Organisationen für Frieden und einen Wandel hin zur liberalen Demokratie arbeiteten. Wie Roland Paris schreibt, sind NGOs mittlerweile ein wichtiger Bestandteil der internationalen Friedensarbeit und teilen implizit die liberale Mission der westlichen Regierungen und internationalen Organisationen.4 Das Problem ist, dass wir nicht viel über diese Akteur_innen und ihre einzigartige Rolle bei der Friedenskonsolidierung nach Konflikten wissen.

Die Realität der NGOs

Die NGOs, auf die ich in Bosnien und anderswo stieß, überraschten mich in mindestens fünf Hinsichten, und die geben den Rahmen für dieses Buch ab. Erstens war da die schiere Zahl und Vielfalt großer und kleiner Organisationen. In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo stolperte ich zwar nie über eine NGO, hatte aber oft das Gefühl, dass es geschehen könnte, wenn ich nicht aufpasste. Das traf insbesondere für meine ersten Besuche in dem Land in den Jahren 2000 und 2001 zu. Ich fand NGOs an den unwahrscheinlichsten Orten: in isolierten Dörfern, in Flüchtlingslagern und in neu errichteten Appartementblocks am Rand der Stadt. Sie waren auch in viel mehr Bereichen tätig und mit viel mehr Aufgaben befasst, als die Forschung vermuten ließ.5 Bei meinen Reisen stieß ich auf NGOs aller denkbaren Arten, die das Land wiederaufbauen, einen Teil der Bevölkerung stärken oder ein vernachlässigtes Thema ins Licht rücken wollten. Es waren ganz gewiss nicht einfach nur humanitäre NGOs, die in Notsituationen halfen oder grundlegende Unterstützung brachten.

Meine zweite Überraschung hinsichtlich des Booms der NGOs war, wie zufällig und vollkommen instabil er sich erwies. In manchen Städten gab es in einem bestimmten Zeitraum viele NGOs, die in ähnlicher Weise arbeiteten (wenn auch nicht unbedingt zusammenarbeiteten), während sich um andere, ebenfalls eindeutig drängende Aufgaben niemand kümmerte. Gruppen tauchten plötzlich auf und verschwanden ebenso plötzlich wieder, oftmals ohne eine Spur zu hinterlassen. Bei jedem Besuch auf dem Balkan waren es weniger NGOs, die ich aufsuchen, und weniger Personen, die ich interviewen konnte, und von den einst zahlreichen zivilgesellschaftlichen Projekten war kaum noch eine Spur zu finden.

Drittens waren die NGOs in Bosnien trotz allem, was ich gelesen hatte, nicht einfach große internationale humanitäre Gruppen, die am Rand des politischen Geschehens kurzfristig Hilfe leisteten. Diese Organisationen waren – oder beanspruchten zumindest, es zu sein – lokale Organisationen, die eine schwindelerregende Vielfalt politischer und gesellschaftlicher Aktivitäten verfolgten. Manche kümmerten sich um ganz praktische Probleme: Sie verteilten Nahrungsmittel, halfen bei der Unterbringung oder bauten Gedenkstätten für Kriegsopfer. Andere arbeiteten für anspruchsvolle abstrakte Ziele wie Demokratie, ethnische Aussöhnung und Vergangenheitsbewältigung. Doch die meisten Untersuchungen über NGOs, zumindest soweit sie von Expert_innen für Internationale Beziehungen (IB) stammen und ganz besonders von jenen, die über Wiederaufbau nach Konflikten schreiben, konzentrieren sich nur auf internationale NGOs oder auf lokale Gruppen und unterteilen sie säuberlich in Kategorien, die angeblich unterschiedlich agieren. Wenn man glaubt, was man liest, befassen sich NGOs entweder mit Hilfeleistung oder mit Interessenvertretung.6 Tatsächlich geht es in Postkonfliktländern nicht so ordentlich zu, und die Aktivitäten von NGOs sind auch nicht so ordentlich unterschieden. Mehrere Jahre lang wurde Bosnien buchstäblich überrannt von ausländischen Regierungen, internationalen Organisationen und INGOs, die samt und sonders alle möglichen NGOs gründen und finanzieren wollten. Meistens handelten sie in guter Absicht und wollten »etwas tun« und etwas bewirken. Die NGOs, mit denen ich gesprochen habe, taten zu unterschiedlichen Zeiten oft beides: Hilfestellung leisten und Interessenvertretung betreiben. Auch die Unterscheidung zwischen internationalen und lokalen NGOs war nicht eindeutig. Da alle NGOs zumindest einen Teil ihrer Gelder von Spender_innen außerhalb des Landes erhielten, war es schwierig zu sagen, ob es sich um internationale Akteur_innen oder einheimische, lokale Organisationen handelte. Schwerpunkte können unmerklich und sogar unwillkürlich gesetzt werden, und die Aussicht auf ausländisches Geld kann Missionen verändern und Strategien beeinflussen.

Viertens war für mich offensichtlich, dass viele NGOs sich nicht nur damit befassten, dem bosnischen Volk zu helfen und den Frieden zu fördern. NGOs sind keine Unternehmen und machen keine Gewinne, aber ihre Mitarbeiter_innen bewegt oft eine Mischung von fehlgeleitetem Altruismus und finanziellem Eigeninteresse. Forscher_innen, die NGOs untersuchen und die Entwicklungshilfe- und humanitäre Industrie betrachten, gelangen oft zu den gleichen Feststellungen über das eigennützige Verhalten von Nichtregierungsorganisationen, doch in der Regel mit Blick auf INGOs.7 Natürlich hat nicht jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin einer NGO nur sein oder ihr eigenes Interesse im Auge, aber es ist klar, dass NGOs aus allen möglichen Gründen von Menschen mit allen möglichen Motiven ins Leben gerufen werden.

Schließlich war es trotz des Booms der NGOs auf dem Balkan und ihrer vielfältigen Aktivitäten und Projekte oft einfacher, ihre unbeabsichtigten und negativen Wirkungen zu erkennen, als Beweise für Leistungen und Erfolgsgeschichten zu sammeln. Wie diese bunte Gruppe von zufällig über das Land verteilten Akteur_innen tatsächlich dazu beitragen sollte, Frieden und demokratischen Wandel voranzubringen, blieb eine quälende Frage.

Trotz dieser Entdeckungen war ich schockiert, als ich hörte, was Menschen über NGOs und ihre transformierende Kraft sagten und anscheinend glaubten. Internationale Geldgeber_innen stellten internationalen oder lokalen NGOs keine übermäßig hohen Geldbeträge zur Verfügung, zumindest im Vergleich zu ihren Investitionen in andere Sektoren. Die bosnische Regierung, die mit ihren eigenen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte, gab dem aufkeimenden NGO-Sektor fast gar nichts. Doch internationale und bosnische Vertreter_innen gleichermaßen setzten oft ein naives Vertrauen in NGOs, schenkten ihnen Lob und Aufmerksamkeit als notwendige oder sogar entscheidend wichtige Partner_innen bei der Friedenskonsolidierung nach dem Ende des Konflikts. Den NGOs wurden sogar kaum lösbare gesellschaftliche Probleme wie die Aussöhnung der Volksgruppen oder die Gleichstellung der Geschlechter übertragen. Die Annahmen, was NGOs leisten können, wurden manchmal nicht direkt ausgesprochen, aber sie waren generell optimistisch; diese zunehmend populären nichtstaatlichen Akteur_innen leisteten hilfreiche Dienste und, noch wichtiger, verkörperten und propagierten bestimmte Werte.

Die Faszination für NGOs schien dann besonders groß zu sein, wenn westlichen Staaten entweder der Wille oder die Möglichkeiten fehlten, bei einem besonders schwierigen Thema oder in einer besonders tief gespaltenen Stadt voranzukommen. Mit anderen Worten: Wenn alles andere nicht funktioniert, wenden sich internationale Akteur_innen reflexhaft dem zu, was vage, aber hochtrabend als Entwicklung der Zivilgesellschaft bezeichnet wird, und den NGOs. Die Realität vor Ort war freilich ganz anders, und Vertreter_innen der US-Regierung wie Außenminister Colin Powell nahmen auch kein Blatt vor den Mund. Wie Powell 2001 sagte, seien NGOs »ungeheuer wichtig« für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, die in vom Krieg zerrissenen Ländern agierten, denn sie wirkten als »Kraftverstärker_innen«: Sie dehnten die Reichweite der amerikanischen Regierung aus und würden ihr helfen, ihre Ziele zu erreichen.8

NGOs sind aus gutem Grund die schnelle, einfache Lösung bei der Friedenskonsolidierung. Erstens springen sie für den bedrängten Staat ein, leisten wichtige Hilfe und übernehmen andere Aufgaben. Zugleich können NGOs Menschen und bestimmten Themen eine Stimme geben und für die Bevölkerung sprechen, die sie unterstützen wollen. Westliche Verantwortliche bezeichneten die NGOs in ihren politischen Entscheidungen und Reden regelmäßig als »notwendige« und »enorm wichtige Partner«, weil sie Frieden, Demokratie und Stabilität propagierten. Zumindest am Anfang teilten die Menschen in Bosnien ihren naiven Optimismus, begrüßten den Boom der NGOs und betrachteten sie als unabhängige, neutrale Akteur_innen, die sich um ihr Leiden kümmerten und irgendwie helfen würden, die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln, um ihr Land zum Besseren zu verändern.

Wichtig ist, dass die NGOs zumindest in Erscheinung traten und zu handeln versuchten, auch wenn die Staaten und internationalen Organisationen wenig taten. Die meisten Bosnier_innen erkannten, dass der Kommunismus den Menschen Handlungsfähigkeit und Verantwortung genommen hatte. Wenn sie für eine internationale NGO arbeiteten – oder noch besser, selbst eine gründeten –, brachte ihnen das wieder die Initiative und Kontrolle. In einer finanziell unsicheren Zeit versorgten vom Ausland finanzierte NGOs Bosnien mit einem einigermaßen stetigen Einkommensfluss und sogar mit einigem Prestige. Trotz ihrer geringen Größe und schmalen Budgets schienen NGOs eine wesentliche Rolle dabei zu spielen, öffentliche und private Akteur_innen zusammenzubringen und Brücken zwischen den Zielen der internationalen Gemeinschaft und lokalen Bedürfnissen zu schlagen.9 An manchen Orten und in manchen Bereichen hielten NGOs an ihrem Wort und der Macht fest.

Leider war vieles davon ein Trugbild, und als die internationale Friedenskonsolidierung auf dem Balkan sich entfaltete, trat die Wahrheit über die NGOs glasklar ans Licht. Mit jedem Besuch auf dem Balkan wurden mir die »schwierigen Wahrheiten« im Zusammenhang mit der Entwicklung der Zivilgesellschaft und der Arbeit der NGOs deutlicher. In der zweiten Hälfte der 1990er hatten internationale Akteur_innen die Straßen von Sarajevo überflutet, aber dann waren sie wieder in ihre Heimatländer zurückgekehrt, und die Karawane der NGOs zog weiter zu anderen, drängenderen Krisenherden. Zum Glück für die internationalen NGOs spitzte sich die Lage im benachbarten Kosovo zu, als das Interesse an und die Geldflüsse nach Bosnien versandeten, sodass die internationalen Akteur_innen nun dorthin eilen konnten. Und nachdem auch diese Krise abebbte, zogen sie weiter nach Afghanistan, wo noch mehr Geld auf sie wartete, um bei Wiederaufbau und Entwicklung nach dem Krieg zu helfen. Doch die Abhängigkeit lokaler NGOs von ausländischen Geldgeber_innen bedeutete, dass auch die meisten bosnischen NGOs verschwanden, als die internationalen NGOs weggingen. Andere versuchten, im Geschäft zu bleiben, indem sie ihre Ziele änderten, und viele lokale NGOs existierten nur noch auf dem Papier.

Der NGO-Boom in Bosnien simulierte lediglich eine lebendige Zivilgesellschaft. Ich bekam Listen mit Dutzenden von NGOs in einer Stadt, die aber letztlich auf eine Handvoll aktiver Organisationen zusammenschmolzen. Ironischerweise konnte es sein, dass eine in Washington oder London gut bekannte NGO, ein Liebling westlicher Geldgeber_innen wegen ihres Einsatzes für bosnische Frauen, bei den Bosnier_innen praktisch nicht präsent war. In manchen Fällen taten die Einheimischen eine NGO als vom Ausland finanzierte Organisation ab, der es an Unterstützung vor Ort und Legitimität fehlte. Selbst wenn eine bosnische NGO ein hübsches Büro mit Computern und perfekt Englisch sprechenden Angestellten hatte, bedeutete das nicht, dass sie auch eine erfolgreiche Organisation vor Ort mit einer bestimmten Klientel und einem konkreten Entwicklungsplan besaß. 2008 gab es in ganz Bosnien zahlreiche NGOs, die »nur auf dem Papier« existierten, und viele gefeierte »Träger_innen des Wandels von unten« verbrachten den Großteil ihrer Zeit damit, Wege auszukundschaften, wie sie ihre Organisation am Leben halten konnten, indem sie Jagd auf internationale Geldgeber_innen machten und komplizierte Förderanträge mit genau definierten Evaluationskriterien ausfüllten. In Postkonfliktländern erfordert die Gründung einer NGO sehr viel mehr als nur eine Notlage. Man braucht Personal, das gut Englisch schreiben kann und über das Knowhow verfügt, um aussichtsreiche Förderanträge zu verfassen. Eine lokale NGO zu unterhalten ist noch schwieriger und verlangt nicht nur ein beständiges Interesse an und Verständnis dafür, was internationalen Geldgeber_innen unterstützen werden, sondern auch die Cleverness, um herauszufinden, wie das Geld und die guten Absichten des Westens genutzt werden können, um lokale (statt internationale) Ziele zu fördern. Die Beteiligung von NGOs an der internationalen Friedenskonsolidierung birgt viele Überraschungen, und ihre wahre Natur ist schwer zu ergründen und zu akzeptieren.

Im Lauf der Jahre begegnete ich in Bosnien und anderen Postkonfliktländern vielen hart arbeitenden, wohlmeinenden Menschen, die für internationale und lokale NGOs tätig waren. Doch ihr Verhalten entsprach nur selten meiner Vorstellung von edlen Menschenfreunden. Einige Vertreter_innen von NGOs waren großzügige Personen mit festen Prinzipien, die sich unermüdlich und kreativ bemühten, durch Gewalt und Instabilität traumatisierten Menschen zu helfen. Andere waren schlichtweg dankbar, dass sie einen Job hatten. Bestimmten Persönlichkeiten schien mehr an ihren wichtigen Positionen gelegen zu sein und an dem Geld, das sie ihnen einbrachten, als an der jeweiligen Sache oder an den Menschen, denen sie angeblich halfen. Ich musste nicht lange darüber nachdenken, warum so viele Ausländer_innen auch so viele Jahre nach dem Abklingen der humanitären Krise immer noch auf dem Balkan blieben. Sarajevo und Mostar sind, obwohl heruntergekommen und im Wiederaufbau begriffen, Städte von Weltrang, und die dort lebenden Ausländer_innen waren alle weitgereiste Profis mit einem Hang zu exotischen Destinationen.

Die Bosnier_innen, die für NGOs arbeiteten, waren sehr viel unterschiedlicher. Nur wenige wurden durch die Arbeit in der Welt der NGOs relativ reich, aber die meisten gaben bereitwillig zu, dass es Vorteile hatte, für eine NGO zu arbeiten – zumindest eine Zeit lang. Die hohe Arbeitslosigkeit und die niedrigen Gehälter in Bosnien bedeuteten, dass jeder Job mit internationaler Verbindung, selbst bei einer lokalen NGO, besser war, als zu versuchen, eine halbwegs einträgliche Beschäftigung in der örtlichen Wirtschaft zu finden. Die Möglichkeit, ein Netzwerk zu knüpfen, und künftige Jobaussichten waren ein unschätzbarer Gewinn.

Doch die Welt der NGOs ist gespalten und hierarchisch. Internationale und lokale NGOs, die auf einem Gebiet arbeiten, bewegen sich im selben geografischen Umfeld, aber zugleich in getrennten Welten, und diese Realität spiegelte die NGO-Kultur in Bosnien wider. Sogenannte lokale NGOs wurden manchmal mit Ausländer_innen besetzt, die unvermeidlich mehr Geld und aus der Sicht der lokalen Mitarbeiter_innen unverdiente Positionen bekamen. So konnte es beispielweise passieren, dass ein frischgebackener College-Absolvent aus den Vereinigten Staaten, der wenig über das Land wusste, die Sprache nicht sprach und kaum über hilfreiche Erfahrungen verfügte, mit der Leitung einer NGO betraut wurde, die in einer komplizierten Postkonfliktsituation agierte – eine für Bosnier_innen mit besserer Ausbildung und jahrelanger Erfahrung nicht nachvollziehbare Wahl. Die Menschen vor Ort ärgerten sich sehr über die Heuchelei der internationalen Friedenskonsolidierung und die herrschende NGO-Kultur mit ihrer grenzenlosen Faszination für »internationale Expert_innen«, die in ein Land einfielen, um dort die unterdrückten, rückständigen Menschen zu retten und ihre Zivilgesellschaft aufzubauen.

Wie die Anthropologin Séverine Autesserre in ihrem Buch über Konfliktlösung und Interventionspolitik10 schreibt, gibt es eine offensichtliche, aber unvermeidliche Diskrepanz zwischen der transnationalen Community von Expats, die ihr Leben der Arbeit in Kriegsgebieten widmen, und den Menschen vor Ort. So gut die Absichten der internationalen Helfer_innen auch sein mögen, sie leben in ihrer eigenen Sphäre und ihrer eigenen politischen und wirtschaftlichen Realität. Zum Beispiel behaupteten internationale Friedensarbeiter_innen, sich für Frauenrechte und die Stärkung lokaler Organisationen einzusetzen, hatten aber keine Skrupel, vorzuschreiben, wie bosnische Frauen sich verhalten sollten, und ignorierten regelmäßig, was lokale Frauengruppen zu sagen hatten. Der Austausch innerhalb in der NGO-Welt war bestenfalls höflich, aber schwierig. Schlimmstenfalls traten die internationalen Friedensarbeiter_innen arrogant und wichtigtuerisch auf, und die Bosnier_innen verhielten sich feindselig und defensiv.

Ob es einem gefällt oder nicht, das ist in vielen Postkonfliktsituationen die Realität der NGOs. Unbestreitbar gibt es das erhebende und bewegende Element nachdenklicher Profis, die sich sehr bemühen, von Grund auf für Wandel zu sorgen. Bei genauerer, längerer Betrachtung treten jedoch die dunkleren Seiten der internationalen Friedensarbeit zutage, und man sieht eigensüchtige Organisationen und professionelle Menschenfreunde Dinge tun, die manchmal weder notwendig noch sonderlich hilfreich sind – besonders für die Menschen, die am meisten Hilfe brauchen. Liberale Friedenskonsolidierung zieht internationale NGOs in großer Zahl an und lässt reihenweise lokale NGOs sprießen, doch dass sie vor Ort sind und hektische Betriebsamkeit entfalten, bedeutet nicht, dass wichtige Probleme angepackt werden und die Menschen wirklich Hilfe bekommen. Manche sind zwar anderer Meinung, aber NGOs bringen nicht automatisch Menschen zusammen, bauen Brücken oder geben lokalen Gruppen und ihren Anliegen eine Stimme. Tatsächlich denke ich, dass der Boom der NGOs bei der Friedenskonsolidierung die Bühne für ihren Niedergang bereitet und viele unbeabsichtigte, schädliche Konsequenzen verursacht hat, insbesondere für einheimische Organisationen und das Alltagsleben in Postkonfliktgesellschaften.

Dieses Buch unterscheidet sich von den meisten anderen über Bosnien und Friedenskonsolidierung in Postkonfliktsituationen in den 1990er Jahren, weil es die Aufmerksamkeit auf Organisationen, Prozesse und Gruppen lenkt, die von Balkanexpert_innen und Sicherheitsforscher_innen oft ignoriert oder vernachlässigt werden. Nur wenige Bücher über Bosnien und den Balkan erwähnen internationale Versprechen zur Entwicklung der Zivilgesellschaft, die Arbeit von NGOs oder das, was im Alltag passiert.11 Da viele aktuelle Bücher über den Wiederaufbau von Postkonfliktländern, Nationenoder Staatenbildung aus der Feder von Sicherheitsforscher_innen stammen, ignorieren auch sie die Rolle von NGOs und die lokalen Realitäten und konzentrieren sich stattdessen auf die Arbeit von Staaten und internationalen Friedenskräften. Inzwischen gibt es viele gute kritische Auseinandersetzungen mit liberaler Friedenskonsolidierung, aber im Allgemeinen bieten sie weder vertiefte Feldforschung noch vergleichende Forschung, noch nehmen sie die NGOs in den Blick.12 Menschenrechtsforscher_innen und Wissenschaftler_innen, die über Entwicklung und die Probleme von humanitärem Engagement schreiben, haben durchaus auf die Defizite und unbeabsichtigten Folgen der Arbeit von NGOs hingewiesen; doch leider werden ihre Erkenntnisse von Expert_innen für internationale Beziehungen, die sich mit Konflikten und Wiederaufbau in Postkonfliktsituationen befassen, häufig ignoriert.13 Entsprechend den eher kritischen Schriften zu liberaler Friedenskonsolidierung und im Einklang mit Forscher_innen, die die unbeabsichtigten negativen Folgen von transnationalem Engagement und ausländischer Hilfe aufdecken wollen, bietet das vorliegende Buch einen vertieften, vergleichenden Blick auf das, was tatsächlich in Postkonfliktgesellschaften geschieht, und ordnet dieses Phänomen zugleich in einen historischen und interdisziplinären Kontext ein.

Das Versprechen der NGOs

Bosnien ist bekannt für die Gewalt, die Europa von 1992 bis 1995 erschütterte. Die Geschichten über Nachbarn, die zu Mördern wurden, Studierende, die Kugeln auswichen, und Ärzt_innen, die Opfer von Konzentrationslagern behandelten, boten einige der schlimmsten Beispiele für Gewalt auf dem europäischen Kontinent seit dem Zweiten Weltkrieg. Alles in allem starben womöglich 200000 Menschen in den Jugoslawien-Kriegen, die 1991 in Slowenien begannen und mit dem bewaffneten Konflikt in Mazedonien 2001 endeten. In Bosnien zerstörte das Blutvergießen einen großen Teil der Infrastruktur des Landes, aber 1999, nach gerade einmal drei Jahren intensiven internationalen Engagements, konstatierten Beobachter_innen, die Wiederaufbaubemühungen seien »bemerkenswert erfolgreich« gewesen.14 Doch die Narben des Konflikts blieben, besonders bei der Bevölkerung, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.

Die Auseinandersetzungen vertrieben fast die Hälfte der Bevölkerung aus ihrem Zuhause, zerstörten die Wirtschaft, und ethnischer Nationalismus durchdrang das öffentliche Leben.15 Ende 2000 sprach ich mit Witwen des Massakers von Srebrenica im Jahr 1995, viele hatten ihre Ehemänner und Söhne durch die Hände bosnischer Serben verloren. Ich fragte sie: Wer würde ihre Angehörigen identifizieren? Wer würde helfen, dieses entsetzliche Geschehen zu einem Abschluss zu bringen?16 Damals dachten diese Frauen an NGOs. In ihren Augen besaßen Nichtregierungsorganisationen Geld und Energie, und ihr Zugehen auf die Menschen war das Richtige in ihrer elenden Situation. Der bosnische Optimismus und der Glaube an die Macht der NGOs wurden zweifellos noch durch die überschwängliche Rhetorik der internationalen Akteur_innen verstärkt, die sagten, die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die NGOs seien entscheidend wichtig für die Friedensförderung und die ethnische Aussöhnung.

Ob absichtlich oder zufällig, die NGOs waren jedenfalls der zentrale Faktor in der Strategie der internationalen Gemeinschaft für den Wiederaufbau Bosniens und die Aussöhnung der muslimischen, serbischen und kroatischen Volksgruppen. Internationale NGOs waren während des Konflikts in Bosnien aktiv, aber nach dem Ende des Konflikts veränderte sich ihre Arbeit, und sie orientierten sich neu. Der Schritt weg von Nothilfe hin zur Unterstützung des Wiederaufbaus und zur Stärkung der Zivilgesellschaft hatte eine explosionsartige Vermehrung nationaler und lokaler NGOs zur Folge. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass die lokalen NGOs zwar einige Bosnier_innen aufnahmen (im Lauf der Zeit immer mehr), was aber nicht gleichbedeutend mit der Feststellung ist, die bosnischen Organisationen seien einheimische Akteur_innen gewesen. Tatsächlich wurden fast alle NGOs in Bosnien durch externe Geldgeber_innen finanziert und manchmal auch gegründet, die ihre ganz speziellen Vorstellungen hatten, wie das Land zu Frieden und Demokratie gelangen sollte. Innerhalb kurzer Zeit galt die Anwesenheit dieser »lokalen« NGOs als klarer Beweis, dass die bosnische Gesellschaft funktionierte und der Weg zu Frieden, Demokratie und Versöhnung beschritten wurde. Doch wie Michael Barnett und Peter Walker erklären17, hat der reiche und mächtige »humanitäre Klub« – das organisierte, hierarchische Netzwerk mächtiger Staaten, Geldgeber_innen, internationaler Organisationen und NGOs, das in Postkonflikt- und Entwicklungsländern operiert – bestimmte Ziele vor Augen, wenn er in ein Land kommt. Das heißt, dass NGOs zwar viele gute Dinge tun, aber auch dazu da sind, den Willen und die Agenda westlicher Staaten und großer internationaler Hilfsorganisationen auszuführen. Die Anwesenheit von NGOs kann ein Geschenk sein, aber es ist ein Geschenk mit Tücken.

Die Witwen von Srebrenica, die ich interviewt hatte, bekamen Geld von mehreren internationalen Geldgeber_innen. Damit konnten sie eine eigene NGO gründen mit dem Ziel, Aufmerksamkeit auf ihre Not zu lenken und die Identifizierung der sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zu finanzieren. Im Lauf der Zeit engagierte sich die Vereinigung der Mütter und Witwen von Srebrenica bei einer ganzen Reihe zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, unter anderem half sie Geflüchteten und ihren Familien. Westliche Besucher_innen Bosniens trafen sich regelmäßig mit Vertreter_innen der Vereinigung und hörten sich die herzzerreißenden Schilderungen ihres Leids und Kummers an. Obwohl diese NGO eher die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel war, profitierten die bosnischen NGOs insgesamt von ihrer Geschichte und ihren Erfahrungen. In der Folge beachtete man sie und setzte auf sie, weil sie sich um lokale Anliegen kümmerten und sich bei Aktivitäten engagierten, die den Menschen in Bosnien halfen, sich ihr Land zurückzuholen und es wiederaufzubauen. Das Versprechen der NGOs war fest verwurzelt, selbst bei jenen, die so viel Tragisches erlebt hatten und sich nun verzweifelt nach Frieden und Versöhnung sehnten.

Die mythenumwobene Bedeutung der NGOs beschränkte sich nicht darauf, dass man ihnen zutraute, Hilfe in Notlagen und bestimmte Dienste zu leisten. Irgendwie waren NGOs in den Ruf geraten, die legitime, rechtmäßige Stimme »des Volkes« zu sein. Weil sie angeblich unterschiedliche Gruppen zusammenbrachten und die Anliegen des bosnischen Volkes vertraten – als wären sie eine homogene Gruppe mit definierten Ideen –, glaubte man, sie spielten die entscheidende Rolle dabei, die Fundamente für politische und soziale Ziele zu legen, einschließlich Demokratie, Versöhnung und sogar Frieden. Wieder gilt: All das war mehr Wille und Vorstellung als Realität. Mit den NGOs verhielt es sich wie mit einer Nudel am Küchenschrank: Sie werden auf ein Problem geworfen in der Hoffnung, dass schon etwas hängen bleiben wird. Obwohl solche Vorstellungen weder richtig überprüft noch ansatzweise bewiesen wurden, war die Logik dahinter doch klar: Weil es in Bosnien so viele Probleme und Notlagen gab, bedeuteten mehr NGOs mehr Hilfe, mehr Mitarbeiter_innen und damit auch mehr Partner_innen bei der liberalen Friedensarbeit.

Auf vielen Ebenen unterstützten Dokumente der Vereinten Nationen und westlicher Staaten die vage, aber ambitionierte Agenda der NGOs. Solche Ideen und politischen Strategien erinnern uns an eine wichtige Lehre aus den Konflikten der 1990er Jahre: Die internationalen Akteur_innen mussten sich unbedingt ein Bild von den lokalen Verhältnissen machen und die heimischen Möglichkeiten zur Stärkung der Zivilgesellschaft und langfristigen Friedenssicherung unterstützen. Im guten wie im schlechten Sinn waren die NGOs die Hauptnutznießer dieser Rhetorik. Obwohl die internationalen Friedensarbeiter_innen intuitiv und durchaus vertretbar handelten, nahmen sie zu oft Abkürzungen; großen Worten standen kleine Taten gegenüber. Statt in einem umfassenden, wechselseitigen Prozess sorgfältig die lokalen Akteur_innen und Initiativen aus der Bevölkerung zu identifizieren, um Vertrauen aufzubauen und Kontakte zu einheimischen Akteur_innen zu knüpfen, die für liberale Friedenskonsolidierung arbeiteten, blieben die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die Unterstützung durch die NGOs zufällig und halbherzig.

Einige wenige Wissenschaftler_innen, die über den Balkan schreiben, erkennen die Allgegenwart der NGOs an und ebenso manche Defizite der westlichen Bemühungen, die Zivilgesellschaft aufzubauen,18 aber in keinem Buch werden die mittel- und langfristigen Wirkungen von NGOs untersucht oder wird gefragt, wie der Boom der NGOs das Alltagsleben in unterschiedlichen Postkonfliktländern geprägt hat. Teilweise hängt das damit zusammen, dass es schwierig ist, verlässliche Informationen über NGOs zu bekommen, insbesondere in durch Konflikte gequälten Ländern. In einer Untersuchung über Bosnien heißt es beispielsweise, 1999 hätten über 170 internationale und 360 lokale NGOs an der »zivilgesellschaftlichen Entwicklung« in dem Land mitgewirkt.19 Eine andere Quelle behauptete, zwischen 1992 und 2001 seien mindestens 8000 NGOs als »humanitäre Organisationen« registriert gewesen und hätten an rund 20000 Projekten im ganzen Land gearbeitet.20 Diese sehr weit divergierenden Schätzungen spiegeln nicht nur eine uneinheitliche Terminologie wider, sie zeigen auch, dass die Aktivitäten dieser zahllosen Organisationen und ihre Wirkungen unbedingt systematischer untersucht werden müssen.

NGO-Spiel

Im Jahr 2008 sprach ich mit dem Direktor einer NGO mit Sitz in Sarajevo. Ich fragte ihn, was aus den vielen NGOs geworden war, die es früher in der Stadt gegeben hatte.21 Ich vermisste das laute Treiben und die Begeisterung über die Projekte regelrecht. Mein bosnischer Gesprächspartner grinste und erzählte mir als Antwort eine Geschichte von einer Konferenz für Führungspersonen von NGOs in Postkonflikt- und Transformationsländern. Er berichtete, wie die Gruppe, bunt zusammengewürfelt aus Menschen vom Balkan, aus Afrika und anderen »Krisenländern«, die der Westen retten wollte, zusammensaß und sich über Erfahrungen und bewährte Praktiken austauschte. Alle hätten über das NGO-Spiel und seine Auswirkungen Bescheid gewusst und sogar Witze darüber gemacht. Es gebe verschiedene Varianten, aber immer gehöre dazu, dass in einem von einem Konflikt zerrissenen oder im Umbruch befindlichen Land Menschen aus dem Westen auftauchen mit viel Geld und tonnenweise guten Absichten. Erstaunlicherweise wüssten jedoch viele von ihnen wenig über das Land und den Grund seiner Probleme. Ohne es so präzise zu formulieren, beschrieben viele Menschen, die ich in Bosnien, im Kosovo und anderswo interviewte, ähnliche Situationen oder Teile dieses komplizierten Szenarios.

Es besteht kein Zweifel, dass die Menschen aus dem Westen Frieden, Demokratie und Entwicklung in die von Konflikten zerrissenen Länder bringen wollen. Doch wohlmeinende humanitär Engagierte haben andere dringende Dinge zu tun, die sich üblicherweise in den Vordergrund drängen. Erstens müssen sie ihre Anwesenheit sowie den akuten Bedarf an finanzieller und materieller Hilfe begründen. Außerdem müssen sie ihre Regierungen, ihre Beiräte oder Geldgeber_innen überzeugen, dass ihre Organisation oder ein bestimmtes Projekt Frieden und Wandel fördern wird. Nach einiger Zeit werden sie greifbare, wenn auch möglicherwiese trügerische Beweise für den gewünschten Effekt vorlegen müssen. Das Land und die betroffenen Menschen sind zweifellos wichtig, aber wegen der strukturellen Gegebenheiten und weil jeder das Spiel spielen muss, geraten die Einheimischen, ihre Bedürfnisse und Wünsche ins Hintertreffen. Ein aktueller umfassender Bericht über die humanitäre Hilfe der internationalen NGO Oxfam fand Belege für das NGO-Spiel und diese spezielle Wahrheit. Obwohl westliche Regierungen und internationale Organisationen den Postkonfliktländern und Transformationsländern viel Geld geben, kommen weniger als 2 Prozent dieser Hilfe tatsächlich bei nationalen und lokalen Akteur_innen an und noch weniger bei lokalen NGOs.22 Zumindest am Anfang erhalten internationale Akteur_innen bei dem NGO-Spiel viel Geld, das sie an zivilgesellschaftliche Projekte und lokale Organisationen verteilen können. Aber die ausländische Hilfe hat ihren Preis.

Obwohl es sich immer um andere westliche »Partner_innen« handelte (teils Regierungen, teils internationale Organisationen oder private Stiftungen) und die Lage in den einzelnen Ländern sich stark unterschied, tauchten im Verlauf weitgehend die gleichen Arten von Organisationen auf und agierten nach ähnlichen Daumenregeln. Und das Spiel ist wegen der Struktur der internationalen Hilfe, der Interessen der beteiligten Akteur_innen und der Vorstellungen von Postkonfliktländern und Transformationsländern im Prinzip leicht zu spielen. Um die westlichen Akteur_innen zufriedenzustellen, vor allem aber, um sie zu bewegen, dass sie ihre Brieftaschen öffneten, mussten die Menschen vor Ort sehr genau zuhören, was über die Ziele einer Regierung, INGO oder privaten Stiftung gesagt wurde. Mit dieser wichtigen Information mussten sie dann in Meetings gehen, Projekte auf die Beine stellen und Aktivitäten organisieren, die zu der Vision und Mission ihrer Geldgeber_innen passten. Die Dynamik, die Vorstellungen und das Verhalten waren im Wesentlichen immer gleich.

Die wohlmeinenden Menschen aus dem Westen zogen ihr Ding durch: Sie schufen zahlreiche »lokale« Partnerorganisationen, investierten in Hilfe zur Selbsthilfe und finanzierten zahllose wichtige Projekte – alles im Namen von Frieden, Demokratie und Stabilität. Unterdessen taten die Einheimischen, was nötig und rational war: Sie gingen zu Meetings, organisierten Aktivitäten und täuschten Interesse für die neuesten Lieblingstheorien der Geldgeber_innen vor. Mein Interviewpartner fasste das NGO-Spiel in einem Schlüsselsatz zusammen: Wir (die Leiter_innen der NGOs) verschwenden das Geld der Menschen aus dem Westen, und sie verschwenden unsere Zeit. Das war nicht kritisch oder zynisch gemeint; er beschrieb einfach ein komplexes, wichtiges Phänomen, das vielfältige Verhaltensweisen und Dynamiken erzeugte, die allerdings oft übersehen werden. Es befeuerte auch den Boom der NGOs.

Bei dem NGO-Spiel gibt es viele Probleme. Obwohl zahlreiche Organisationen und unzählige Aktivitäten finanziert werden, entsteht daraus nur selten ein starkes Netzwerk nachhaltiger heimischer Organisationen und Bündnisse. Und weil die transnationalen Beziehungen nur vorübergehend, die Machtverhältnisse zwischen internationalen und einheimischen Aktivist_innen so ungleich sind und viel Geld an Letztere fließt, ist das Ergebnis »Projektfixierung«, »NGO-Fixierung« und eine losgelöste Zivilgesellschaft. Mit anderen Worten: Der internationalen Rhetorik und dem Wust von Aktivitäten und Projekten zum Trotz wird das Versprechen der NGOs nur selten erfüllt, und der kurzfristige Nutzen ist nicht nachhaltig; nur ausnahmsweise entstehen daraus starke einheimische gesellschaftliche Organisationen. Kurzfristig nützt die dysfunktionale Beziehung zwischen internationalen und lokalen Aktivist_innen allen an dem Spiel Beteiligten, aber die Situation kann nicht von Dauer sein und sollte es auch nicht sein. Unweigerlich schwindet das internationale Interesse, die ausländischen Gelder versiegen. Die westlichen Akteur_innen werden ungeduldig, und die lokalen Partner_innen verlieren die Lust, weiter so zu tun, als würden die Aktivitäten in ihrem Leben oder in ihren Ländern wirklich etwas verändern.

Von Frustration und Vergeblichkeit abgesehen, waren Aufstieg und Niedergang von NGOs in vielen Postkonfliktländern und Transformationsgesellschaften in den 1990er Jahren zu beobachten, die beschriebenen Dynamiken bestehen bis heute in diesen Ländern fort, auch wenn sich inzwischen die Akteur_innen und die Ziele verändert haben. Spiele werden üblicherweise zum Vergnügen gespielt, aber politische Strategie und Praktiken in Postkonfliktländern sind ein ernsthaftes, milliardenschweres Geschäft mit hohem Risiko. Die Versprechungen und das Auftreten fügen vielleicht niemandem unmittelbaren Schaden zu, doch der Boom der NGOs hat schädliche Folgen. Das Spiel und die damit verbundenen Machenschaften lassen die Einheimischen unzufrieden und enttäuscht zurück. Ohne echte Macht erreichen die NGOs wenig, und Auseinandersetzungen mit Geldgeber_innen färben auf andere Bereiche und auf die Friedensarbeit generell ab. Das, was in der Welt der NGOs passiert, macht es noch schwerer, mit der Heuchelei und Selbstgerechtigkeit der internationalen Aktivist_innen umzugehen, die nicht zuhören und alle Antworten schon kennen, aber nur wenig Dauerhaftes schaffen.

In der Theorie unterschied sich die internationale Friedenskonsolidierung in den 1990er Jahren von den Bemühungen der Vergangenheit, teils weil Akteur_innen von außen sich auf einzelne Konfliktländer und lokale Gruppen konzentrierten mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft neu zu ordnen und Einstellungen zu verändern. Eine Fülle neuer Organisationen und Top-down- und Bottom-up-Strategien in Verbindung mit weiteren Veränderungen in der internationalen Politik verursachten zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Folgen der liberalen Friedenskonsolidierung: viel Geld für internationale und lokale NGOs und eine Vielzahl politischer Strategien, Institutionen und Praktiken zur Unterstützung und Förderung lokaler NGOs und der Zivilgesellschaft. In bestimmten Bereichen oder in einer bestimmten Phase kann ein sprunghafter, starker Anstieg der Zahl von NGOs positiv sein, weil diese Organisationen zur rechten Zeit humanitäre Hilfe leisten. Die Arbeit von NGOs kann auch eine echte Inspiration für Einzelne sein, sich in der Gesellschaft zu engagieren, weil sie das Gefühl haben, dass sie wirklich etwas verändern können. Doch der zahlenmäßige Zuwachs an Organisationen darf nicht missverstanden und überbewertet werden. Tatsächlich kann ein starker Anstieg bei der Zahl von NGOs auch genau das Gegenteil bedeuten, und wenn man sich die Situation auf dem Balkan genauer anschaut, wird erkennbar, dass allein die Zahl der NGOs in einem Land weder ein Symptom noch ein Synonym für die Existenz lokaler Partner_innen ist, die sich Frieden und anderen liberalen Zielen verpflichtet fühlen. Da so viele Akteur_innen vor Ort von den Menschen, für die sie angeblich arbeiten, weder gewählt wurden noch ihnen verpflichtet sind, stellen sich unvermeidlich überraschende und unerwünschte Konsequenzen ein.