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Dr. Norden Bestseller
– 59 –

Das Leben hat mir nichts geschenkt

Patricia Vandenberg

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-86377-161-4

»Von Sommer keine Spur«, sagte Fee Norden betrübt, »jedenfalls werden wir heute abend in der Oper nicht schwitzen.«

Daniel Norden lachte.

»Du findest wenigstens immer einen Vorteil, Schätzchen. Hoffen wir, daß wir nicht auch da enttäuscht werden.«

Sie waren beide musikbegeistert, hatten aber nur selten Zeit, gemeinsam in die Oper zu gehen. Die Karten hatten sie von dem Bariton Carlo Dietrich geschenkt bekommen, der von Daniel erfolgreich von einer Kehlkopfentzündung kuriert worden war. Es war wohl der Angsttraum eines jeden Sängers, durch eine solche Erkrankung vorzeitig abtreten zu müssen, und Carlo Dietrich gehört zu denen, die erst ziemlich spät zu Ruhm und Ehren gekommen waren. Er war ein seßhafter Mensch und hatte sein geliebtes München nicht für längere Zeit verlassen wollen. Er hing auch sehr an seiner Familie.

Fee freute sich, wenn sie mal mit ihrem Mann ausgehen konnte. Allerdings war niemals auszuschließen, ob nicht doch etwas dazwischenkommen würde, denn seinen Patienten gab Dr. Norden stets den Vorzug.

Aber es kam nichts dazwischen, und diesmal waren sie sogar recht pünktlich. Fee sah bezaubernd aus in dem fließenden tannengrünen Seidenkleid, das ihr herrliches blondes Haar noch wirkungsvoller zur Geltung brachte.

Sie erregten Aufmerksamkeit, wo immer sie in der Öffentlichkeit auftraten, denn ein so attraktives Paar sah man nicht oft. Freilich war es auch nicht zu vermeiden, daß sie Bekannte trafen, aber Daniel war schon zufrieden, wenn er im Foyer nicht um ärztlichen Rat gefragt wurde, was ihm auch schon oft genug widerfahren war.

Auf dem Programm stand die Oper Carmen. Die Titelrolle wurde von der noch jungen Marisa Lassa gesungen, deren Stern kometenhaft am Opernhimmel aufgestiegen war. Fee und Daniel hatten sie noch nie zuvor gehört. Ihre Karriere hatte an der Mailänder Scala begonnen, und unwillkürlich dachte auch jeder, daß sie Italienerin sei, des Namens und auch des Aussehens wegen.

Bevor der Vorhang aufging, betrachtete Daniel Norden das Bild der Sängerin im Programmheft so intensiv, daß Fee ihn neckend fragte, ob sie ihm gefalle.

»Sie kommt mir bekannt vor«, erwiderte er sinnend. »Ich weiß nur nicht, wo ich sie einordnen soll. Gewiß nicht unter diesem Namen.«

»Es ist kein Dutzendgesicht«, sagte Fee, »aber sie war noch nie in München.«

Dann aber konnten sie lange dieser wunderschönen Stimme lauschen, deren Timbre und Volumen Staunen und Bewunderung und am Ende rauschenden Beifall erzeugte. Das war eine Carmen, wie man sie sich interessanter nicht vorstellen konnte, voller Temperament und Grazie, schlank, von herber Schönheit.

Plötzlich schlug sich Daniel Norden an die Stirn. Fee sah ihn ganz erschrocken an.

»Komm, wir gehen«, sagte er. »Wir machen ihr einen Besuch. Mal sehen, ob sie sich noch an uns erinnert.«

Fassungslos sah ihn Fee an, und während immer noch lauter Beifall und Bravorufe durch das Opernhaus rauschten, bahnten sie sich einen Weg durch die Menge.

»Marisa Lassa«, sagte Daniel Norden gedankenvoll. »Erinnerst du dich nicht an Marie Elisabeth Glaser, Fee?«

»Aber Daniel«, sagte Fee, doch dann unterbrach sie sich und versank in Nachdenken. »Die kleine Glaser?«

»Ein Mädchen mit einer wunderschönen Stimme, das bei uns im Kirchenchor sang«, sagte Daniel. »Es ist so etwa fünf Jahre her, daß ihr Vater starb.«

»Vielleicht will sie daran nicht mehr erinnert werden«, sagte Fee. »Sie ist jetzt ein Star, und damals lebten sie doch in recht bescheidenen Verhältnissen. Sie ist jetzt Marisa Lassa.«

»Ja, du magst recht haben, Fee«, gab Daniel zu. »Es könnte sie in Verlegenheit bringen. Fahren wir also heim.«

»Wir könnten uns ja auch irren«, meinte Fee. »Es war ein recht unscheinbares Mädchen.«

»Aus manchem grauen Entlein wird ein schöner Schwan«, sagte er. »Nein, ich irre mich nicht, Fee. Der Organist Stadelmeier hat damals gesagt, daß sie ganz groß werden könnte, wenn sich ein Mäzen fände.«

»Und der scheint sich gefunden zu haben«, sagte Fee. »Sie lebt jetzt in einer anderen Welt.«

*

Genauso war es. Marisa Lassa wurde bewundert, verehrt, angebetet. Ein Blumenmeer erwartete sie in der Garderobe. Aber denen schenkte sie nicht die Beachtung wie dem alten Herrn, der die Hände nach ihr ausstreckte.

»Papa Stadelmeier«, sagte Marisa mit bewegter Stimme, »wie schön, daß du gekommen bist.«

»Das durfte ich doch nicht versäumen, Kindchen«, erwiderte er. »Wunderschön war es. Ich bin so glücklich, und ich freue mich so sehr für dich.«

Sie drückte ihm einen Kuß auf die Wange. »Und ich ziehe mich um. Dann kommst du mit zu mir ins Hotel. Wir haben uns doch viel zu erzählen.«

»Willst du nicht lieber mit zu mir kommen, Marisa? Da haben wir es ruhiger. Wenn du schon deine kostbare Zeit mit mir teilen willst…«

»Mit wem denn lieber als mit dir, Papa Stadelmeier. Dir habe ich doch alles zu verdanken. Das werde ich nie vergessen. Gern komme ich mit zu dir. Besucht hätte ich dich sowieso.«

Draußen warteten Verehrer, die dann sehr enttäuscht waren, als sie mit einem weißhaarigen alten Herrn ein Taxi bestieg und nur ein freundliches Winken für die anderen hatte.

Sie trug jetzt ein schlichtes, grauweiß gemustertes Jackenkleid und als einzigen Schmuck eine rosaschimmernde Perlenkette.

Während der Fahrt sprachen sie nichts und tauschten nur Blicke, denn Marisa hatte sich schon daran gewöhnen müssen, daß manche Ansprüche von ihr auf die seltsamsten Wege in die Zeitungsspalten gelangten, und hier, in ihrer Heimatstadt, wollte sie unerkannt bleiben. Nicht etwa aus Hochmut, oder sich gar ihrer ärmlichen Kindheit schämend, sondern aus einem ganz bestimmten Grund, von dem noch niemand etwas ahnte.

Als sie vor dem kleinen rosenumrankten Häuschen hielten, atmete Marisa tief auf.

»Es hat sich nichts verändert«, sagte sie mit schwingender Stimme.

»Nein, bei mir nicht«, erwiderte Paul Stadelmeier leise. »Älter bin ich halt geworden, und das Rheuma plagt mich ein bissel.«

Es plagte ihn sehr, aber das wollte er nicht zugeben. Gemütlich war sein Haus. Überall standen Bilder von Marisa. Sie war tief gerührt und umarmte ihn.

»Laß dich erst mal anschauen, Kindchen«, sagte er. »Jetzt bist du ja nicht die Carmen, sondern meine kleine Marisa. Herrgott, bist du schön geworden.«

»Schmeichler«, sagte sie weich. »Ich habe mich halt ein bißchen gemausert.«

»Und hast mich nicht vergessen, das macht mich froh.«

»Eine Schand’ wäre es, wenn ich dich vergessen hätte. Ich habe dir auch etwas mitgebracht, Papa Stadelmeier.« Schnell legte sie ein Etui auf den Tisch, das sie aus der Handtasche genommen hatte. Rührung, allertiefste Rührung überkam ihn, als er daraus eine goldene Taschenuhr entnahm, auf deren Innendeckel eingraviert war: Meinem besten Freund in Dankbarkeit. Marisa.

Er wischte sich schnell die Tränen aus den Augen und gab ihr einen herzhaften Kuß.

»Hast du auch all meine Briefe bekommen?« fragte sie.

Er zog die Schublade des alten Sekretärs auf. »Da sind sie. Nun erzähle mal von der Tournee. Ich richte dir etwas zu essen.«

»Ich habe keinen Hunger, mach dir keine Umstände. Ein Gläschen von deinem guten Portwein würde ich aber schon trinken.«

Da saßen sie nun beisammen wie das letzte Mal vor drei Jahren, als Marisa noch unbekannt und unerkannt zu ihm gekommen war, um ihm persönlich zu sagen, daß sie ihr erstes Engagement bekommen hätte. Da war aus der kleinen Marie Elisabeth Glaser Marisa Lassa geworden, da hatte sie abgeworfen, was erdrückend und demütigend auf ihren schmalen Schultern lastete.

So allerhand hatte sie mit sich herumtragen müssen, aber nun war sie davon befreit. Nur eines konnte sie nicht vergessen. Einen Menschen gab es, dem ihre ganze Verachtung galt, der ihrer Kinderseele damals peinigenden Schmerz zugefügt hatte.

Dieser Mann hieß Johann Steffens und war der Besitzer der Fabrik, in der ihr Vater als Schlosser gearbeitet hatte.

*

Die kleine Marie Elisabeth war ein stilles, besinnliches Kind gewesen, voller Phantasie, voller Träume, lernbegierig und empfindsam. Die Mutter hatte sie früh verloren, der Vater war ein wortkarger, einfacher, arbeitsamer Mann, der so gut wie möglich für seine Tochter sorgte, aber nicht das richtige Verständnis für dieses zartbesaitete Kind aufbrachte. Er rackerte sich redlich ab, arbeitete auch noch bei den Steffens im Haus und Garten, aber es reichte dann gerade für den Lebensunterhalt und bescheidene Kleidung.

Auch Marie Elisabeth mußte zupacken, wenn er im Garten der Steffens arbeitete. Damit sie gar nicht erst auf dumme Gedanken käme, meinte Otto Glaser, denn sie sei nun mal kein Herrschaftskind.

Axel und Irene Steffens waren die Herrschaftskinder, aber sie mochten die kleine Marie Elisabeth. Sie steckten ihr Obst und Süßigkeiten zu und wollten auch mit ihr spielen. Aber das hatte Johann Steffens dann schnell unterbunden, als er dahinterkam.

»Das ist kein Umgang für euch«, hatte er hart erklärt und das Kind davongejagt. Otto Glaser hatte keinen Stolz mehr. Er war ein kranker Mann und bangte um seinen Verdienst. Er katzbuckelte, was Marie Elisabeth als demütigend empfand.

Er gab auch nicht die Einwilligung, daß sie die höhere Schule besuchen durfte, obgleich die Lehrer es wollten, denn sie hatte die besten Zeugnisse in der Klasse. Und auch das war Johann Steffens ein Dorn im Auge, denn Irene hinkte da schwer hinterher. Sie wurde, wie auch ihr drei Jahre älterer Bruder Axel, in ein Internat gesteckt. Friedrich Stadelmeier hatte dann doch dafür gesorgt, daß Marie Elisabeth das Gymnasium besuchen durfte. Aber sie stand auch dort abseits. Sie war nicht so gut gekleidet wie die anderen Kinder, sie bekam kein Taschengeld, sie konnte in den Ferien nicht verreisen. Dies alles jedoch hätte sie ertragen, wenn man sie nicht teils mitleidig, teils abfällig behandelt hätte.

Doch sie hatte sich nicht unterkriegen lassen. Ich werde es euch schon zeigen, hatte sie gedacht. Und ihr Ehrgeiz steigerte sich mehr und mehr. Sie hatte nur einen Menschen, der sie verstand, das war Papa Stadelmeier. Er hatte sie in den Kirchenchor gebracht, er gab ihr heimlich Klavierunterricht. Otto Glaser wußte mit dieser Tochter nichts anzufangen, die neben der Schule ihr Geld mit Nachhilfestunden und Babysitting verdiente, die jeden Pfennig ablieferte, um ihm nicht auf der Tasche zu liegen, und die nicht wagte, ihm zu sagen, daß sie nur den einen Wunsch hatte, nämlich Sängerin zu werden.

Von diesem Wunsch wußten nur Papa Stadelmeier und dann auch Dr. Norden.

*

An den dachte Marisa nun, da sie nach dem gedanklichen Ausflug in die Vergangenheit wieder in die Gegenwart zurückkehrte.

»Hat Dr. Norden eigentlich noch seine Praxis, Papa Stadelmeier?« fragte sie.

»Aber ja und inzwischen hat er auch drei Kinder. Er ist sehr beliebt.«

»Damals sprach man davon, daß er ein Sanatorium übernehmen wolle.«

»Die Insel der Hoffnung. Ja, die leitet sein Schwiegervater, Dr. Cornelius.«

»Insel der Hoffnung«, wiederholte Marisa leise. »Gut klingt das.«

»Wann machst du Ferien?«

»Ich weiß noch nicht genau. In vierzehn Tagen vielleicht.«

»Du darfst dich nicht überanstrengen, Kindchen. Nonstop darfst du keine Engagements annehmen.«

»In vierzehn Tagen ist Pause, aber ich habe viel zu erledigen«, erwiderte Marisa. »Ich stehe vor schwierigen Entscheidungen. Aber jetzt habe ich hier noch drei Aufführungen. Wir werden uns noch öfter sehen und darüber sprechen.«

»Bedrückt dich etwas?« fragte der alte Herr. »Kann ich dir etwas abnehmen?«

»Jetzt ist es wohl an mir, dir etwas abzunehmen, mein Freund«, sagte sie. »Du hast genug für mich getan. Da kommt mir eine Idee.« Sie lächelte und wirkte dadurch noch anziehender. »Aber das verrate ich noch nicht. Ich komme morgen vorbei. Und nun sei mir bitte nicht böse, wenn ich mir ein Taxi bestelle und zum Hotel fahre. Ich bin doch ein bißchen müde.«

Als sie die Hotelhalle betrat, kam ihr schon ein untersetzter, ziemlich aufgeregter Mann entgegen. Fernando Beltramini, ihr Manager.

»Wo hast du solange gesteckt, Marisa?« fragte er vorwurfsvoll. »Wie kannst du mich so ängstigen?«

»Ich bin erwachsen, mein Lieber«, sagte sie nachsichtig. »Ein Kindermädchen brauche ich nicht mehr.«

»Aber ich mache mir Sorgen«, sagte er väterlich, und sie brauchte an der Aufrichtigkeit dieser Worte nicht zu zweifeln. Er war kein Geschäftemacher, er hatte ein großes persönliches Interesse an ihr, was sie auch nicht falsch aufzufassen brauchte, denn Fernando war seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet und Vater von vier Kindern, die er abgöttisch liebte.

»Mein Neffe Claudio ist gekommen, Marisa«, sagte Fernando. »Er hat einen Freund mitgebracht, der dich sehr gern kennenlernen möchte. Ich konnte Claudio die Bitte nicht abschlagen. Du weißt, wie sehr er dich verehrt.«

»Muß das heute sein, Fernando? Ich bin müde«, sagte Marisa, aber da kam Claudio schon aus einem Nebenraum, und ihm folgte auf dem Fuße ein hochgewachsener dunkelhaariger Mann, bei dessen Anblick Marisa den Atem anhielt. Ganz weit wurden ihre Augen, und das Blut wich aus ihren Wangen.

»Marisa, verehrte Marisa«, sagte Claudio temperamentvoll, »ich bin glücklich, Sie zu sehen, Sie bewundern zu dürfen. Darf ich Ihnen meinen Freund vorstellen, der auch ein großer Verehrer von Ihnen ist: Axel Steffens, seit gestern Doktor der Jurisprudenz, was wir heute mit dem köstlichen Genuß, Ihre Stimme zu hören, gefeiert haben.«

Marisa kannte Claudios überschwengliche Art, aber er war ein netter junger Mann. Aber sie kannte auch Axel Steffens, wenngleich er sich auch sehr verändert hatte. Sie ließ sich nichts anmerken, sie hatte Beherrschung gelernt und konnte auch im Leben eine recht gute Schauspielerin sein, wenn es angebracht war. Hier schien es ihr angebracht, denn sie dachte nicht daran, sich ihm zu erkennen zu geben. In seinen dunklen Augen las sie nur Bewunderung. Nein, sie brauchte nicht zu fürchten, daß er sie erkannte. Wie sollte er auch vermuten, daß sie jene Marie Elisabeth Glaser war, mit der zu spielen und zu sprechen ihm und seiner Schwester verboten worden war.

Freilich war es reizvoll für sie, mehr über ihn zu erfahren. Ihre Müdigkeit war jedenfalls verschwunden, und ihre Nerven vibrierten.

Axel war ein sehr gut aussehender Mann geworden, aber sie konnte doch auch viel Ähnlichkeit mit dem Jungen entdecken, der für ein armes kleines Mädchen so eine Art Märchenprinz gewesen war. Mit seinem Vater hatte er keine Ähnlichkeit.

Seine Stimme war leise und angenehm. Er sagte ihr, daß er sie schon in Mailand bewundert hätte, als er dort Claudio besuchte.

Da sie mit Claudio italienisch gesprochen hatte, versuchte er sich auch darin, ein wenig holprig, aber doch recht verständlich, und sie hätte es auch beibehalten, hätte Fernando nicht gesagt, daß sie auch sehr gut deutsch spräche.

»Ich war früher längere Zeit in Deutschland«, erklärte sie rasch, Fernando einen warnenden Blick zuwerfend. »Sie leben hier, Herr Stadelmeier?«

»Ja, ich bin hier geboren.«

»Sein Vater hat eine Fabrik«, erklärte Claudio.

»Und Sie haben Interesse für Musik?« fragte Marisa ironisch.