Impressum

© Telescope Verlag 2017

www.telescope-verlag.de

Bilder: Regina Weber

Lektorat: Verena Rotermund, Selzen

Ludger

Das Spiel begann! Pünktlich um 17 Uhr 30 pfiff der Schiedsrichter das Spiel Eintracht Frankfurt gegen Borussia Dortmund an. In neunzig Minuten würde Ludger wissen, ob er 200.000 Euro gewonnen hatte. „Liebe Dortmunder, macht jetzt bitte, bitte keinen Scheiß”, flehte er innerlich. „Ihr seid Favoriten, gewinnt einfach.” Kaum hatte er sein „Gebet” ausgestoßen, machte Frankfurt das 1:0. Kurz und trocken, Ecke, Tor. Starr blieb er sitzen und starrte den Bildschirm an. Wie gelähmt schaute er zu, wie die Frankfurter jubelten. „Das gibt es nicht, das können sie nicht machen! Die Frankfurter ficken meinen Schein. Weiter geht´s, noch sind fünfundachtzig Minuten zu spielen!” Er gelobte, wenn das Spiel sich noch drehte, in der Frauenkirche eine Kerze anzuzünden, obwohl er Atheist war.

Wütend griffen die Dortmunder an und versuchten schnell den Ausgleich zu schießen.

„Das Tragische am Fußball ist, dass nicht immer unbedingt die bessere Mannschaft gewinnt“, dachte Ludger. Bestes Beispiel war 2012 das „Finale dahoam” des FC Bayern München gegen Chelsea. Selten war eine Mannschaft so drückend überlegen gewesen, verlor aber dennoch im Elfmeterschießen das Spiel.

Karl

Es war windig, kalt und ungemütlich. Eine unangenehme, steife Brise wehte von Osten und blies die letzten Herbstblätter von den Bäumen. Ab und zu regnete es aus den tiefhängenden Wolken, kein Wetter, um aus dem Haus zu gehen bei Temperaturen um die 5 Grad. Aber Karl musste. „Hilft ja nichts.”

Sein Auto war in der Werkstatt und er musste es abholen. Bremsscheiben vorne und hinten, diverse Kleinigkeiten wie Glühbirnen und Dichtungen, Ölwechsel, „das macht 750 Euro”, hatte der KFZ-Meister am Telefon gesagt. Karl hatte geschluckt und im Kopf schnell überschlagen, wie er ohne diese 750 Euro über den Monat kommen sollte. Die Werkstatt war draußen in Pasing, sie war günstig, er kannte den KFZ-Meister dort schon lange, die Preise waren deutlich unter denen einer Vertragswerkstatt und das war bei BMWs happig, denn er fuhr eine Fünfer Limousine. Schon als er auf die Straße hinaufging, wusste er, dass es nicht sein Tag war. Ein Schäferhund riss sich von seinem Besitzer los, rannte auf ihn zu – er dachte schon, er wollte ihn beißen – jaulte, bellte und stieg mit den Vorderpfoten an ihn hoch, versuchte ihn sogar abzuschlecken, das hatte er bei einem Hund noch nicht erlebt. Als der Besitzer, der aussah wie ein Obdachloser oder Drogenabhängiger, den Hund wieder an die Leine nahm, sagte er:

„So kenne ich ihn gar nicht, los jetzt, Hasso, ruhig.”

Er merkte, dass ihn der Hund vor lauter Freude auf die Hose uriniert hatte. Er überlegte kurz, wieder hochzugehen und sich umzuziehen, er entschied sich aber, so wie er war, sein Auto abzuholen. Nachdem er sich an einer nahegelegenen Tankstelle gestärkt hatte (zwei Riegel Mars, ein Bier, ein kleiner Doornkaat), wartete er geduldig, bis die Autowerkstatt nach der Mittagspause wieder öffnete. Pünktlich um 15 Uhr war der Meister, Herr Kowalski hieß er, wieder da.

„So, das macht 750 Euro, Herr Knecht, bezahlen Sie bitte bei der netten Dame an der Kasse”, sagte Herr Kowalski freundlich, als er ihm den Autoschlüssel gab.

Er startete das Auto und fuhr los. Schon in der ersten Kurve merkte er, dass das Auto unrund lief, und als er an der Kreuzung bremsen wollte, passierte es: Er stieg auf die Bremse, doch es passierte – nichts. „Verdammt, was haben die mit den Bremsen gemacht?”, schrie Karl, als er mit ca. fünfzig Stundenkilometern ungebremst auf das Auto vor ihm auffuhr. Es gab einen gehörigen Rumms und der Airbag ging auf. Fast unverletzt, er hatte sich nur ein wenig an der zersprungenen Windschutzscheibe am Finger geschnitten, stieg er aus. Die Polizei kam schnell, während Karl geschockt auf der Bordsteinkante saß. Die Fahrerin des vorderen Autos war ebenfalls unverletzt. Routiniert nahmen die Polizisten den Vorfall auf, ließen Karl blasen, 0,5 Promille, und nach einer halben Stunde kam der Abschleppwagen, Karl ließ den Wagen zu einer Vertragswerkstatt abschleppen.

„Den Kowalski verklag’ ich, den Pfuscher!”

„Das wird teuer, einen Unfall bauen und noch Promille”, sagte der Polizist, nachdem er den Alkoholwert festgestellt hatte.

„Aber ich bin nicht schuld, die Bremsen haben versagt!”, sagte Ludger entschuldigend.

„Ja, ja, das sagen sie alle”, meinte der Polizist lächelnd.

„Das ist definitiv heute nicht mein Tag. Ich bin gespannt, was noch passiert, vielleicht fällt mir noch ein Backstein auf den Kopf und ich falle tot um.”

Frustriert ging er zu Fuß zur S-Bahnstation, es regnete inzwischen in Strömen.

„Das wäre wirklich nicht nötig gewesen”, sagte er und schaute hinauf zum Himmel.

Ludger

Mal wieder Oberarztvisite. Ludger war inzwischen völlig desorientiert und hoffnungslos, er hatte sich seinem Schicksal ergeben. Die Medikamente, die helfen sollten, taten ihr Übriges. Erst nach der dritten Aufforderung betrat Ludger den Raum mit den Ärzten und Pflegern, die im Halbkreis vor ihm saßen. Der Professor saß in der Mitte und schaute ihn streng an.

„Sie sehen mitgenommen aus, Herr Milker”, sagte er.

„Wundert Sie das?”, antwortete er.

„Nein, das wundert mich nicht, Herr Milker. Wie geht es Ihnen?” „Sehr schlecht Herr Professor, ich bin nicht verrückt, aber das glaubt mir niemand”

„Doch, ich”, antwortete der Professor.

Ungläubig schaute Ludger den Professor an.

„Sie sind einige Wochen hier, wir haben Sie genau beobachtet und untersucht und haben keinen psychiatrischen Befund, noch heute geht es für Sie zurück nach Stadelheim, dort werden Sie zurück in den Strafvollzug gebracht, ihr Vergehen muss jetzt die Justiz beurteilen.”

„Ich danke Ihnen”, erwiderte Ludger mit Tränen in den Augen und stand auf.

Traudl

Traudl saß vor dem Fernseher und strickte, wie fast immer. Wie es zu allem gekommen war? Kurz zusammengefasst: Ihr Traumehemann hatte sich als hoffnungsloser Bankrotteur herausgestellt, alles war nur auf Pump gekauft oder das große Geld hatte ihr Mann durch langjährige Betrügereien erwirtschaftet. Bei der Polizei war er ebenfalls kein Unbekannter und so wurde er schnell wegen diverser Kapitalverbrechen verhaftet. Traudl war heilfroh, dass sie überhaupt noch das Geld für den Rückflug nach Deutschland zusammenbekam, die Ehe wurde formlos per Schnellverfahren geschieden. In München wohnte sie eine Zeitlang bei ihrer Mutter, bis sie eine kleine aber feine Zweizimmerwohnung gefunden hatte, sie bekam sogar ihre Arbeit im Wettlokal wieder. So saß sie nun, als wäre nie etwas passiert, wieder in ihrer Wohnung strickend vor dem Fernseher und versuchte die Welt zu verstehen.

„Gibt es eingefleischte Vegetarier?” oder „Wenn Maisöl aus Mais gemacht wird, wie sieht es dann mit Babyöl aus?”, das waren Fragen die sie beschäftigten.

Natürlich geisterten die für sie üblichen Fragen und Probleme zu den Themen Liebe, Geld, Beziehung und Politik durch ihren Kopf. Der Fernseher lief nur als Hintergrundrauschen, oft schlief sie auch davor ein. An ihr Abenteuer in Australien dachte sie immer weniger, „da war ich sehr naiv”, ging sie mit sich selbst hart ins Gericht.

„Aber lieber eine schlechte Erfahrung als gar keine, wieder was gelernt.”

Mit dem Pullover war sie fast fertig, sie strickte gerade am zweiten Ärmel. Sie hatte sich für ein einfaches Muster aus beigefarbenen und schwarzen Tönen entschieden. Vor ihr stand eine duftende Tasse mit Ceylontee. Sie hatte die Rolladen heruntergelassen, eine Stehlampe versorgte den Raum mit Licht, auf dem Wohnzimmertisch brannte eine Duftkerze. Für Realityshows im Fernsehen hatte sie eine Schwäche entwickelt, je niedriger das Niveau umso besser. Ständig ging es tiefer im Niveaulimbo, von Germanys Next Top Model über Deutschland sucht den Superstar bis hin zum Bachelor, Dschungelcamp, Big Brother oder dem bisherigen Tiefpunkt „Adam sucht Eva“, wo sich nackte Menschen auf einer einsamen Insel kennenlernten, um dann im Gebüsch zum Stelldichein verschwanden. Sie war sich sicher, es würde noch etwas Niveauloseres kommen. Sie freute sich schon darauf. Das Interessante war, das die Akteure in den verschiedenen Formaten recycled wurden, also immer wieder auftraten und weitergereicht wurden.

„Warum kommt es so, wie es kommt?”, fragte sie sich, als sie eine neue Reihe strickte.

„Da nimmt man sich etwas vor und dann kommt es ganz anders. Das ist gemein. Nun ja, das Leben ist kein Wunschkonzert und es könnte immer schlimmer kommen. Pierre hätte ja ein Schläger sein können oder er hätte mich an seine Freunde zum Spaß verkaufen können. Wie auch immer, es könnte immer schlimmer kommen.”

Sie nippte am Tee.

„Hm, da fehlt Süße”, sie gab etwa Kandiszucker hinein und rührte um.

Etwas hatte sie noch retten können aus dem Ehedesaster in Australien: ihre Silberlöffelsammlung, die hatte sie nicht zurückgelassen, sondern in ihren kleinen Koffer verstauen können. Mit ebensoeinem Löffel ( Wappen Australiens – mit Känguru und Emu) rührte sie den Tee um.

„Manche Dinge ändern sich nie”, dachte sie sich, als sie einen Schluck nahm.

Sie hatte sich schnell wieder in ihre alte Arbeit als Bedienung im Wettlokal eingearbeitet. Zum Glück hatte man der vorherigen Bedienung wegen Unzuverlässigkeit gekündigt, mehrmaliges Fehlen ohne Entschuldigung ging eben nicht.

„Hallo Traudl, man sieht sich immer zweimal im Leben”, begrüßte sie Ivo strahlend, als er ihr einen Begrüßungskuss auf die Wange gegeben hatte.

Es fiel ihr nicht schwer, wieder „nur” Bedienung und keine reiche Millionärsgattin mehr zu sein.

„Das Leben ist wie ein Theaterstück, es ist egal, welche Rolle man spielt, man muss sie nur gut spielen”, hatte ihr mal eine Freundin gesagt. „Viele sind unzufrieden mit ihrem Leben. Sie sehen, wie der Kollege oder der Nachbar ein schickeres Auto fährt oder den größeren Fernseher hat. Ständig sind sie unzufrieden und wollen den noch besseren Urlaub, die noch schickere Wohnung und schlussendlich den noch perfekteren Partner. Für viele endet es in Frustration, weil sie sich in dieses Hamsterrad der Wünsche und Bedürfnisse treiben lassen. Mir geht es nicht so, lieber verdiene ich weniger, dafür habe ich mehr Freizeit und auch am Ende mehr Lebensqualität.”

„Ja, da könntest du recht haben”, hatte sie geantwortet.

„Jetzt reicht es aber mit Stricken.”

Sie legte die Stricksachen zur Seite, machte es sich auf der Couch bequem und zappte durch die Programme. Es kam wie immer eine Mischung aus Volksmusik, Krimi, Sport und irgendwelchen Dokumentationen (davon allein drei über Hitler).

„Kein Wunder, dass die Jugend kein Fernsehn mehr schaut, das ist so oldschool noch nach Programmschema zu schauen, heutzutage streamt man oder youtubt. Irgendwann schauen tatsächlich nur noch Rentner Fernsehn.”

Sie blieb bei einer Tierdokumentation über den Serengeti Nationalpark in Tansania hängen.

„Ja, die Tiere sind nicht grausam, sie müssen töten, um zu überleben. Es ist der ewige Kreislauf aus Fressen und Gefressenwerden.”

Sie nickte ein. Ein Mann näherte sich ihr, er trug eine afrikanische Holzmaske, aber er schien ihr vertraut. Es war nicht Pierre, der australische Bankrotteur. Nein, er sagte ihr freundliche Worte, nahm ihre Hand und küsste sie sogar. Sie ließ ihn gewähren, instinktiv spürte sie, dass er ihr nichts Böses tun würde, sie vertraute ihm. Sie schwebten und flogen höher und höher, bis sie über den Marienplatz waren. Plötzlich stürzten sie ab und landeten im Marienbrunnen. Sie wachte auf, denn sie hatte die Teetasse umgestoßen.

„Echt lustig, was man so träumt”, dachte sie sich, während sie sich die Zähne putzte.

Ludger

„Glück gehabt”, sagte der Anwalt zu Ludger, „Sie sind vorläufig frei, gratuliere. Beim Haftprüfungstermin wurde festgestellt, das Sie in Notwehr gehandelt haben.”

Ungläubig stotterte Ludger.

„W...w...was heißt das? Ich verstehe nicht?!”

„Gehen wir, gehen wir, bevor es sich der Richter noch anders überlegt.”

Er zog Ludger an seinem Ärmel aus dem Gerichtssaal.

„Das gibt es doch nicht, ich bin frei, freeeeei!!!” Ludger schrie seine Freude laut heraus.

Dieses Freiheitsgefühl, dieses Glück, diese unfassbare Freude machte sich wohlig in Ludger breit, als er ins Taxi stieg. Das Gefühl ging von seinem Bauch aus und strömte bis in die Fußspitzen und die Fingerkuppen. Es hatte angefangen zu schneien. Zwar blieb der Schnee nicht liegen, aber die Prognose für die nächsten Tage war winterlich. Ein Tief zog durch Europa und dann sollten die Temperaturen auf zweistellige Minusgrade fallen. Der Straßenasphalt schimmerte wie ein Spiegel, in dem die Lichter der Stadt glänzten.

„Ich werde es mir zu Hause so richtig gemütlich machen, von der Welt habe ich erst einmal genug”, nahm sich Ludger vor, als er aus dem Taxi vor seiner Wohnung ausstieg.

Er hatte die Badewanne mit extra warmen Wasser volllaufen lassen und gab die Kräutermischung „Badetraum“ hinzu, abschalten, entspannen, die Welt da draußen vergessen. Kein Internet, Fernseher, nicht einmal Radio. Die Welt konnte ihm gestohlen bleiben. Genug CDs hatte er, von Klassik über alte Hits von vor 20-30 Jahren wie Bon Jovi oder Depeche Mode, bis hin zu Jazz. Überall in der Wohnung Kerzen, er hatte sogar Patchouli-Räucherstäbchen gefunden, das Handy war aus. Nachdem er noch schnell an der Tankstelle das Nötigste gekauft hatte, inklusive einer Flasche akzeptablen Wein, war er durch den immer stärker werdenden Schnee nach Hause gestapft.

„My home is my castle, ich glaube das nennt man heutzutage ‘cocooning‘.”

Beim Stöbern in seiner Büchersammlung hatte er eine alte Ausgabe der Recherche von Proust gefunden, „genau das Richtige!”.

Er liebte diese Endlosschleife aus Beschreibungen, Nabelschau und scheinbar unwichtigen Details aus dem Leben eines gelangweilten Dandys zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Frankreich.

„Das wäre ein Leben, ohne finanzielle Sorgen in den Tag hineinleben, sich um scheinbar unwichtige Dinge kümmern, vom Leben dahintreiben lassen, bis hin zur Lebenssinndepression.“

Inzwischen war das Badewasser soweit abgekühlt, dass es weder zu heiß noch zu kalt war. Ludger schwebte geradezu im Wasser, ein süß-harziger, fein-hölzerner und balsamischer Duft lag in der Luft, die Stereoanlage spielte „Marconi Union” mit „Weightless”, seine Gedanken schweiften ab zu seinen letzten Urlauben. Formentera, Lombok, Diani Beach in Kenia, er mochte Strände, möglichst unberührt. Fast konnte er das Wellenrauschen dort hören, den Sand an seinen Fußsohlen spüren, das Salzwasser schmecken, eine tiefe Ruhe und Geborgenheit überkam ihn, er fühlte sich mit sich und der Welt eins.

„Aber das Glück kann nie kommen. Sind die Umstände endlich gefügig gemacht, so verlegt die Natur den Kampf von außen nach innen und bringt allmählich in unserem Herzen eine Wandlung hervor, so daß es etwas anderes wünscht, als was ihm zuteil werden wird.”

Ludger legte die Recherche zur Seite und dachte über diesen Satz nach. Er hatte es sich inzwischen auf der Couch im Wohnzimmer gemütlich gemacht, eingemummelt in seinen weißen Bademantel und eine flauschige Decke, das Buch vor sich liegend, die Ellenbogen bequem aufgestützt auf einem weichen Kissen, er naschte Erdnüsse.

„Natürlich ist das Glück nie vollkommen, liegt ja auch in der Natur des Menschen, immer fehlt etwas, stets sucht man das noch Bessere. Äußere Umstände verändern natürlich das Herz, die Gefühle, ja, man kann schlechte Sachen erleben und trotzdem Gutes wünschen, das macht Sinn, so ist der Mensch.” Ludger nahm wieder eine Handvoll Erdnüsse und schob sie sich in den Mund. Er ging in die Küche, um im Kühlschrank zu schauen, ob etwas Essbares darin war. Bis auf ein Glas mit Salz-Dill-Gurken und eine halbvolle Tube Senf war der Kühlschrank leer.

„Na, dann eben der unvermeindliche Bringservice”, fantasielos bestellte er sich eine Quattro Stagioni.

Nachdem er die Pizza gegessen hatte, lümmelte er wieder auf der bequemen Couch, diesmal ließ er Klassik (Schubert) laufen. Durch das Wohnzimmerfenster konnte Ludger schemenhaft erkennen, dass es schneite. Er machte das Fenster auf, holte sich ein Kissen und rauchte eine Zigarette. Ja, er hatte eigentlich aufgehört, aber seit einiger Zeit rauchte er wieder ab und zu eine. Er atmete weißen Atem aus, der sowohl von seiner Zigarette als auch von der Kälte kam. Melancholisch schaute er zu, wie der Schnee langsam das Gras vor seinem Fenster immer weißer werden ließ. Es war trockener Schnee, kein Pappschnee, der leise knisterte, wenn er auf dem Boden fiel. Eine schwarze Katze lief schnell über die Wiese, scheinbar suchte sie einen Unterschlupf oder ihre Wohnung. Ihn fröstelte, obwohl es mit knapp 0 Grad nicht zu kalt war. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und schloss das Fenster.

„Jetzt könnte ich wieder baden”, dachte er.

Früher hatte er intensiv Russisch gelernt, sogar einen Kurs an der Volkshochschule hatte er belegt. Aber nach einiger Zeit hatte er es einschlafen lassen. Warum Russisch? Er hatte noch einmal eine linguistische Herausforderung gesucht. Er blieb bei Chinesisch oder Russisch hängen, da ihm das Russische nicht ganz so fern erschien (man konnte wenigstens einige Buchstaben lesen), entschied er sich für Russisch. Außerdem hatte er Russisch an der Schule in Dresden gehabt. Er schaute sich auf Youtube einige kostenlose Lektionen an und nahm sich vor, wieder intensiver zu lernen, wenigstens 10 Minuten pro Tag.

„Nicht für die Schule lernen wir, sondern für das Leben”, hatte ein Lehrer immer gesagt, „das stimmt!”, stellte er mal wieder fest und nahm einen Schluck Rotwein. Er erinnerte sich an seine Kindheit, an seine Schulzeit, frei und unbeschwert war sie gewesen. Das Schöne an den Erinnerungen ist, das man die schlechten vergisst und sich oft nur noch an das Gute erinnert. Der Kiosk, an dem er sich immer Süßigkeiten für ein paar Pfennige geholt hatte, oder die Eislaufbahn, auf der er im Winter mit seinen Freunden Schlittschuh gelaufen war. Wie in Glasdosen lagen sie in seinem Gedächtnis und wurden zu speziellen Gelegenheiten wieder hervorgekramt. Die Bücherei, ja dieser scheinbar langweilige und verstaubte Ort, hier hatte er das erste Mal Comics gelesen und ausgeliehen, später war sie zu einer Schatzkammer seiner Leseleidenschaft geworden. In den Glasdosen waren aber auch Gefühle und Empfindungen, wie z.B. der erste Kuss eines Mädchens oder die Freude, als Dynamo Dresden im Europapokal gegen eine westdeutsche Mannschaft gewonnen hatte. Er liebte es, diese Erinnerungen hervorzuholen, sie noch einmal nachzuempfinden, um sie dann erfreut zurückzustellen.

Aus Langeweile schaltete er den Fernseher an und fing an herumzuzappen. In schneller Folge wechselte er die Programme, teilweise ohne sie richtig anzuschauen, ab und zu blieb er hängen, mal bei einer Doku mal bei einem Nachrichtensender, alles fügte sich zu einem Brei aus Farben, Tönen und Werbeeinblendungen. Er schaltete wieder aus. Nach einer Gutenachtzigarette (er stellte fest, dass er heute mehr als eine halbe Schachtel geraucht hatte), ging er schlafen, wälzte sich aber lange Zeit nur im Bett hin und her. Schließlich gab er es auf und machte das Licht an, „dann lese ich noch ein wenig in der Recherche”, dachte er sich und holte das Buch aus dem Wohnzimmer. Er war immer noch bei Swanns Welt, dem ersten Teil, er hatte also bei insgesamt sieben Bänden noch einiges zu lesen. Nach einer Weile lesen versuchte er es wieder, auch diesmal konnte er nicht einschlafen.

„Was ist denn los?” Er stand auf und lief ruhelos durch die Wohnung. Seine Gedanken kreisten immer häufiger um den Psychiatrieaufenthalt, um Prinz Caro, ab und zu dachte er sogar noch an Frida, obwohl die Sache schon Jahre zurücklag.

„Ich werde sie nie vergessen.”

Auf der Wohnzimmercouch fand er Ruhe und verfiel in einen schlafähnlichen Zustand. Als er auf die Uhr schaute, erschrak er:

„Schon fünf Uhr! Jetzt brauche ich auch nicht mehr schlafen!”

Er zog sich an und holte am Ostbahnhof die Süddeutsche und beim Bäcker ein süßes Stück (Nussschnecke), machte sich Kaffee und las in aller Gemütsruhe die Zeitung.

„Die Araber sollten sich das Leben des Brian anschauen, die Judäische Volksfront soll nicht gegen die Volksfront von Judäa kämpfen, sondern gegen die Römer”, stellte er beim Lesen fest. Komischerweise machte ihn der Kaffee nicht wach, im Gegenteil, er wurde so müde, dass er sich nur noch angezogen auf das Bett legen konnte und sofort einschlief. Erst spät am Nachmittag, die Sonne ging bereits unter, wachte er aus einem traumlosen Schlaf auf. Er rasierte sich, putzte sich die Zähne, spülte mit Mundwasser nach und klatschte zum Schluss After Shave auf die rasierte Haut. So erfrischt bestellte er sich ein Taxi – ins Wettlokal. Er wusste nicht, warum er sich dazu entschlossen hatte.

„Manchmal entscheidet man sich unbewusst, im Traum, während des Schlafs”, suchte er nach einer Erklärung.

Nach einer halben Stunde stieg er aus dem Taxi und stand vor dem Wettlokal im Westend. Es hatte sich nichts verändert, wie in einer Zeitmaschine war noch alles genau so, wie er es vor ein paar Jahren das letzte Mal in Erinnerung hatte.

Traudl, Ludger

Traudl war wieder voll ihrem Element, freundlich wie immer unterhielt sie sich mit den Gästen, räumte nebenbei die leeren Gläser und Tassen weg oder brachte neue Getränke. Das Lokal war normal besucht, es stand kein sportliches Großereignis an, was die Leute in die Wettlokale treiben würde, ein Allerweltsabend. Sie schaute von ihrer Spüle hoch und konnte es nicht glauben. Ein Mann mit braunen Haaren, an den Schläfen schon ergraut, im saloppen dunklen Sakko, weißem Hemd, braunen Schuhen im Budapester Stil und einem Lächeln, das nur einem gehören konnte, betrat den Raum – Ludger!

„Jesus, Maria und Josef”, entfuhr es ihr. Sie ließ das gerade gespülte Glas klirrend auf dem Boden fallen.

„Scherben bringen Glück, Grüß dich, Traudl!”

Ludger ging auf Traudl zu, umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie wünschte sich, dass er sie nie wieder loslassen würde.

„Wie ich sehe, hat sich nichts geändert, sogar dieselbe Bedienung, machst du mir einen Kaffee, bitte?”

Automatisch ging sie an die Kaffeemaschine und brachte ihm den Kaffee mit Milch und drei Süßstoff, wie er ihn immer wollte. Ihre Gedanken fuhren Karussell, das Herz versuchte sich selbst zu überholen, ihr war schwindelig.

„Was ist nur los mit mir?” Verlegen schaute sie Ludger an und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. In einer Ecke sitzend und auf einen Bildschirm starrend saß Ivo und er ging zu ihm. Dieser schaute erst ungläubig, dann umarmten sie sich lange.

„Und wir dachten, du kommst nie wieder”, sagte Ivo lachend.

„Ja, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.”

„Komm Ivo, wir gehen nach draußen eine rauchen.”

Wie früher standen sie an der frischen Luft, rauchten, schwiegen am Anfang, um dann doch ein loses Gespräch über dies und jenes anzufangen, so als wäre die jahrelange Abwesenheit von Ludger nicht gewesen. Inzwischen hatte es deutlich abgekühlt und der Regen verwandelte sich auf der Straße und dem Gehweg in eine gefährliche Eisschicht, Blitzeis. Er fühlte sich wie zu Hause, die Einrichtung des Wettlokals war immer noch dieselbe, schwarze Barhocker und die Tische mit einer hellen Plastikdecke, die Breitbildschirme mit den aktuellen Quoten und laufenden Fußballspielen, es lag wie immer ein muffiger Geruch in der Luft. Fast wollte er wieder wetten, er tat es aber dann doch nicht.

„Die Zeiten sind zum Glück vorbei”, sagte er zu Ivo.

„Das ist sehr vernünftig”, antwortete der.

Er blickte zu Traudl. Er hatte sie immer gemocht, doch er hatte es nie ernsthaft erwogen, sie als mögliche Partnerin für eine feste Beziehung zu sehen. Natürlich war er ihr sehr dankbar gewesen, als sie ihm im Gefängnis das Geld geschenkt hatte, aber wie schon früher hatte er sie nicht als begehrenswerte Frau gesehen, eher als Kamerad.

„Traudl ist, wenn ich sie mir genauer anschaue, eigentlich hübsch. Das Schöne blüht im Verborgenen”, dachte er sich.

Nachdenklich nippte er am Kaffee und strich sich mit der Hand durch sein Haar. Er lächelte sie an. Verlegen schaute sie wieder weg, sogar auf diese Enfernung konnte er sehen, wie sie rot wurde.

So verbrachte Ludger einen schönen und entspannten Abend im Wettlokal. Er lachte viel und auch Traudl, Ivo und die anderen von früher waren froh, dass er wieder da war. Natürlich hatte er gemerkt, dass Traudl sich besonders gefreut hatte. Aber wie so häufig, stand er auf der Leitung und unternahm nichts, dabei wäre Traudl an diesem Abend zu jedem Abenteuer bereit gewesen. Als er zahlte und sich zum Gehen bereit machte, meinte er einen Ausdruck von Bedauern in ihrem Gesicht zu sehen.

„Ist irgendwas?”, fragte er sie.

„Aber nein, alles in bester Ordnung.”

„Dann wünsche ich dir einen schönen Abend, bis bald”

„Ja, bis bald”, sagte sie und dachte sich: „Da geht er dahin, mein Held.”

Prinz Caro

Sicherlich will der Leser wissen, was denn nun mit Serge, alias Prinz Caro, passiert war?! Nun, in jener besagten Nacht kam es ja zur Schlägerei in der Cocktailbar. Ludger konnte fliehen und beging diese abscheuliche Tat, für die er dann wegen Notwehr freigesprochen wurde. Serge hatte Pech und wurde brutal verprügelt, landete im Krankenhaus und fiel in ein Koma, die Ärzte diagnostizierten ein Blutgerinnsel im Gehirn. Nach einigen Monaten stellten seine Eltern aus Zürich den Antrag, die lebenserhaltenden Geräte abzustellen, da keine Aussicht bestand, dass Serge jemals wieder aufwachen würde. Mit der Urne ihres Sohnes kehrten die Eltern nach Zürich zurück. Von all dem wusste Ludger nichts.

Einar

Einar durchsuchte seine Hosentasche,

„... da war doch mein Schlüssel, ich weiß es genau”, er suchte auch in der anderen Hosentasche, nichts.

„Hm, dann hat Gudrun meine Schlüssel versteckt, warum macht sie das?”

Er ging ins Wohnzimmer und suchte weiter, doch er fand seine Hausschlüssel nicht. Dass Gudrun die Schlüssel mit Absicht versteckt hatte, wusste er nicht, durch seine Alzheimererkrankung wurde er jeden Tag hilfloser. Am Anfang war es die noch belächelte Vergesslichkeit im Alter, aber als er seine Ehefrau Gudrun eines Tages zum dritten Mal fragte, welcher Wochentag sei, hatte sie einen Verdacht. Sie beschloss, mit ihm beim Hausarzt einen Termin zu machen. Nach einer eingehenden Untersuchung bei einem Spezialisten stand fest: Einar hat Alzheimer, zwar noch in einem frühen Stadium, aber wenn man nichts unternahm, würde es immer schlimmer werden. Er bekam Medikamente verschrieben, viel nutzten sie nicht, zu gern trank er ab und zu mal ein Bier oder ein Glas Wein, was die Wirkung verminderte oder er weigerte sich schlichtweg, die Medikamente zu nehmen.

Wann Gudrun zurückkommen wollte, wusste er nicht mehr, was hatte er noch mal gesucht? Die Schlüssel! Genau die!

„Bin doch nicht ganz deppert”, sagte er zu sich selbst. „Vielleicht in den Schubladen?”, er machte eine Schublade nach der anderen am Wohnzimmerschrank auf, nichts. Dann ging er in die Küche und schaute in jeden Schrank, sogar bei den Kochtöpfen schaute er nach.

„Ich werde sie tüchtig ausschimpfen, Frechheit, meine Schlüssel zu verstecken. Gut, dann koche ich mir eine Suppe. Schauen wir mal, was ich reintun kann.”

Er setzte einen Topf Wasser auf und schaltete den Herd auf höchste Stufe. Aus dem Kühlschrank tat er einiges an Gemüse (Karotten, Gurken, Kohlrabi) hinein, an der Fensterbank fand er Basilikum, „das kommt auch rein”, freute er sich, „als Zugabe noch einige Steine vom Balkon, ja das wird fein”, so ließ er die Suppe kochen, während er sich wieder der Suche nach seinen Schlüsseln widmete.

„Suppe, Schlüssel suchen, Schublade!, Steine, ich habe Hunger, warum habe ich nur einen Socken an, was riecht hier so verbrannt?, das muss der Schlüssel sein”, wild zuckten die Gedanken durch Einars Kopf. Zum Schluss setzte er sich erschöpft in die Badewanne, warum wusste er nicht, er kam mit dem Fuß an den Wasserhahn und kaltes Wasser kam aus dem Duschkopf, das machte ihn wach. Er versuchte aus der Badewanne zu kommen, doch es gelang ihm nicht, so versuchte er es minutenlang mit allen möglichen Verrenkungen aus der Badewanne herauszukommen. Ein lautes Geräusch ertönte, der Brandmelder in der Küche hatte angeschlagen.

„Ich verstehe die Welt nicht mehr”, Einar weinte.

Karl und Heike

Natürlich war es nicht leicht für Heike, warum auch?

„Nichts gibt es umsonst auf der Welt, außer den Tod und der kostet zumindest die Angehörigen auch etwas”, sagte sie immer. Was sie in letzter Zeit umtrieb, war das Thema Altersarmut.

„Mit meiner Fotografie komme ich gerade so über die Runden, aber Rücklagen oder gar Beiträge für die Rentenversicherung? Ok, das bisschen aus der Künstlerkasse, aber das sind nur Peanuts”, machte sie sich Sorgen. „Ich habe nun mal keinen Versorger und bin auf mich alleine gestellt, soll ich auf die Hilfe meiner Kinder hoffen? Die haben ganz andere Sorgen.” Mit ihren fünfunffünfzig Jahren war sie in einem Alter, in dem man immer öfter an das Thema Rente und Ruhestand denkt.

„Da helfen auch Anti-Falten-Cremes bald nicht mehr, das Alter kommt!”, stellte sie fest.

Es klingelte an der Tür, zuerst dachte Karl, es wäre nur der DHL-Mann mit einem Paket, aber als es zum dritten Mal klingelte, jeweils immer dringlicher, drückte er auf den Türöffner. Er hörte die Schritte, die zu seiner Wohnung hochgingen, es musste eine Frau sein, denn es waren Stöckelschuhe.

„Nanu, wer kann das sein?”, fragte er sich.

„Nein, das gibt es nicht”, staunte er. Es war Heike, schick zurechtgemacht mit einem blauen Zweiteiler, kurzem Rock und ihre Beine betonenden schwarzen Netzstrümpfen. Strahlend kam sie die Treppe hinauf, auf ihren roten Lippen ein süßes Lächeln.

„Hier, das ist für dich”, sagte sie und hob die Tortenhaube hoch. „Schwarzwälder Kirschtorte, die magst du doch so gerne”, er roch ihr Parfüm und lächelte.

„Ich verstehe die Frauen nicht, aber sei es drum”, dachte er sich und gab Heike einen Willkommenskuss.

„Was ist der Grund?”

„Muss es immer einen Grund geben?”

„Nein, nein, ich freue mich”, Karl lächelte glücklich.

Im Vorzimmer umarmten und küssten sie sich, anfangs nur zärtlich, dann immer wilder und leidenschaftlicher. Wie ausgehungerte Tiere zogen sie sich gegenseitig die Kleider aus und Karl trug Heike schließlich halbnackt ins Schlafzimmer. Ungestüm, sich gegenseitig schmutzige Worte ins Ohr flüsternd, die Haare zerzausend, sich die Rücken zerkratzend fielen sie übereinander her. Schnell hatte sich Karl das Kondom übergestreift und es gab einen wilden Ritt, Hammer und Amboss, bis zum Schrei, als beide gleichzeitig kamen.

„Alles vergessen?”

„Aber ja doch, du Schwerenöter”, entgegnete Heike und biss sanft in sein Ohr.

Epilog

Ludger und Traudl

Ludger kam pünktlich nach Hause. Wie immer hatte er per WhatsApp geschrieben, wann er ungefähr zu Hause sein würde. Bis dahin hatte Traudl das Abendessen fertig. An der Tür gab es – auch wie immer – ein Empfangskomitee zur Begrüßung: Wie die Orgelpfeifen stand Traudl mit Jonas und Emma, den beiden Kindern, drei und fünf Jahre alt, da. In der Luft lag ein Geruch nach Braten, Knödeln und Kraut, Traudl hatte sich wieder selbst übertroffen. Sie hatten erst vor zwei Jahren gebaut und wohnten bei Petershausen, fernab vom Großstadttrubel. Ludger arbeitete seit Jahren wieder als Webdesigner und hatte sich selbstständig gemacht, so konnte er sich seine Arbeitgeber aussuchen, die aus der ganzen Welt kamen.

„Wie war dein Tag, Liebling?”, fragte sie, als sie ihm einen Begrüßungskuss gab.

„Ach, nichts besonderes, morgen mache ich Homeoffice; hmm, hier riecht es lecker, hast du wieder in der Küche gezaubert?”

„Ach lass mich doch, es macht mir Spaß.”

„Ich habe nichts dagegen!”

„Das Schlimme am guten Kochen ist, dass man zunimmt, das macht mich fertig.”

„Ich mag jedes Gramm an dir, das weißt du.”

„Ich fühle mich aber unwohl, wenn ich zu dick bin.”

„Ich will dir nur sagen, dass ich dich akzeptiere, so wie du bist”

„Jetzt wirst du aber kitschig, Ludger, wenn ich eine Tonne wäre, würdest du mich bestimmt nicht mögen.”

Ludger kratzte sich am Kinn.

„Na, was hast du denn heute angestellt, meine Maus?”, sagte er zu Emma, als er sie hochhob und durch die Luft wirbelte, was sie mit einem lauten Lachen beantwortete.

Nachdem sie zusammen herumgealbert hatten, wobei Jonas und Emma ihre Erlebnisse aus dem Kindergarten erzählt hatten, wurde gegessen.

„Kommt an den Tisch, das Essen wird kalt.”

In den letzten Jahren hatte Traudl das Kochen für sich entdeckt und verfeinerte ihre Künste immer mehr, sie besuchte sogar Kochkurse.

„Sollen wir heute Abend eine Runde ‚Mensch ärgere dich nicht’ spielen?”, fragte Traudl.

„Au ja!”, antworteten Jonas und Emma fast zeitgleich.

Beide waren schon sehr gut darin geworden und gewannen immer öfter, zugegebenermaßen halfen Ludger und Traudl aber auch oft nach und ließen sie absichtlich gewinnen. Ludger nahm sein Smartphone aus der Hosentasche, schnell surfte er ein paar Seiten ab.

„Was gibt es denn so Wichtiges, Liebling?”

„Ach, nichts besonderes”, antwortete Ludger mit einem liebenswerten Unterton.

Er hatte soeben unauffällig 1.000 Euro auf das nächste Spiel der Bayern gesetzt.

 

Traudl

Traudl freute sich auf den Feierabend um 23 Uhr.

„Dann mache ich mir einen heißen Kakao und dusche erst mal lange.” Sie fühlte sich immer schmutzig nach der Arbeit. Ständig Getränke einschenken, Gläser spülen oder Tische sauberwischen. Es ging ihr gegen den Strich.

„Aber von irgendetwas muss man leben.”

Früher, nach dem Studium, war sie noch voller Tatendrang gewesen. Doch Alkohol, falsche Lebenspartner und auch Pech hatten sie zu einer „Lowperformerin”  gemacht, wie man heutzutage im Neoliberalendeutsch sagen würde. Die Sachbearbeiterin bei der Arbeitsagentur konnte ihr damals nach dem Studium wenig Hoffnung machen. Sie hatte Philosophie studiert und damit konnte man nicht wirklich viel anfangen. Die Stellen für Dozenten an der Uni waren begrenzt, in der freien Wirtschaft gab es nicht direkt Einsatzmöglichkeiten.

„Wenigstens kann ich komplizierte Zusammenhänge verstehen, analysieren und wiedergeben, das ist auch was.”

Sie bewarb sich bei einigen Unternehmen im Marketing und Vertrieb, bekam aber nur Absagen. Abends trank sie gerne mal ein, zwei Bierchen, was im Laufe der Zeit immer mehr wurde. Sie stieg auf günstigen Wein um, landete dann schließlich beim Schnaps. Eine typische Alkoholikerkarriere. Ihr langjähriger Freund, bei dem sie eingezogen war, fing sie irgendwann an grundlos zu schlagen, sie gewöhnte sich daran. So war sie mit Ende Zwanzig bereits ganz unten angekommen. Seit zwei Jahren war sie nach einer Therapie nun trocken und arbeite seit einem halben Jahr als Bedienung in diesem Wettlokal. Ihren aggressiven Freund hatte sie verlassen.

„So langsam wird es”, stellte Traudl fest und zündete sich eine Zigarette an. Sie inhalierte tief und stieß den Rauch durch die Nase aus.

„Bekommt man Geld zurück, wenn ein Taxi rückwärts fährt?”, schoss es ihr durch den Kopf. Oder: „Warum ist das Wort ‚Abkürzung’ so ein langes Wort?”

Solche „Brainflashs”, wie sie es nannte, hatte sie öfter.

„Warum laufen Nasen, während Füße riechen?”, war ein Klassiker.

Sie führte es auf ihre inzwischen überwundene Alkoholsucht zurück. Außerdem hatte sie im Philosophiestudium gelernt, alles zu hinterfragen.

„Bin ich eigentlich eine Stoikerin oder eine Epikurerin?”

Ihre Gedanken sprangen wieder in die Realität zurück:

„Die Zigaretten sind wieder teurer geworden” stellte sie fest und nahm sich vor, zeitnah aufzuhören. Sie hatte alles probiert, – nichts hatte genutzt.

„Vielleicht einfach so aufhören und es durchstehen? So jetzt mache ich mir einen schönen Fernsehabend mit mir und meiner Muschi!”

So hatte sie scherzhaft ihre dreifarbige Glückskatze genannt.

„Sogar der Ex-Ministerpräsident von Bayern, der Edmund, nennt seine Frau so, also kann der Name nicht verkehrt sein!”

Der Fernseher mit 140 cm Bilddiagonale stand direkt vor ihrem Bett und sie kuschelte sich gemütlich in ihre Bettdecke. Muschi machte es sich unter ihrer Bettdecke gemütlich. Sie schaute in ihrer Fernsehzeitung, was geboten wurde, und zappte durch die Kanäle. Schließlich blieb sie bei einem Godzillafilm hängen – sie liebte Grusel- und Horrorfilme. Da konnte es schrecklicher und grauenvoller nicht zugehen. Der Film nahm den erwarteten Verlauf und Godzilla verwüstete ordnungsgemäß eine amerikanische Großstadt nach der anderen. Sie wurde langsam entspannt und müde. Während der Fernseher weiterlief, schlief sie ein. Sie träumte von einem riesigen Kater, der auf den Hinterpfoten durch die Innenstadt von München stapfte. Er hinterließ hinter sich eine Schneise der Verwüstung. Schließlich kletterte er auf die Türme der Frauenkirche und biss einem Turm die Spitze ab. Ein Apache-Kampfhubschrauber nahm ihn unter Beschuss, der Riesenkater fiel herunter und setzte mit einem Feuerstrahl aus dem Maul die ganze Kirche in Brand. Traudl wachte auf, schaltete den Fernseher aus und ging sich die Zähne putzen. Sie schlief endgültig bei dem Gedanken daran ein, ob man im Schaltjahr auch Automatik fahren darf.

Zum Autor

00001_sw.jpg

Stefan Marek wurde 1968 in Cosel/Polen geboren. Er widmet sich schon seit seiner Jugend dem Schreiben. Literatur und das gedruckte Wort prägten auch einen Teil seines beruflichen Werdegangs. Nach dem Abitur 1988 in Mannheim, einer Ausbildung zum Verlagskaufmann war er bei diversen Verlagen, u.a. Burda und Gruner + Jahr tätig. Zurzeit ist er in der Softwarebranche in München als Vertriebsmitarbeiter tätig.

Stefan Marek schreibt nicht nur Prosa, sondern auch Lyrik. Er schreibt Romane in einem modernen Schreibstil, Gegenwartsliteratur wie sie im Kommen ist. Seine Romane sind prägnant und voller Tiefe. Mit Blick auf das Wesentliche beschränkt, zieht er den Leser hinein in eine Welt, in der nicht alle Fragen beantwortet werden

2003 Roman „Ein Sommer der Liebe“

2010 Roman „Amo Vitam“ sowie Lyrikband „Der emigrierte Schuh“

2012 Roman „Mithras Baal“, Telescope Verlag

2017 Roman „Die München-Variationen“, Telescope Verlag

Mitglied im Verband Deutscher Schriftsteller