Jakob Schrenk
Brief eines Lesers (7)
Ich finde, es war eine gute Entscheidung, mich diesen Leserbrief schreiben zu lassen. Es schmeichelt meiner Eitelkeit, mein Selbstdarstellungsinteresse an so einem elitären Ort zu verwirklichen. Außerdem glaube ich, dass ich der typische Kursbuch-Leser bin. Ich bin 36 Jahre alt, also weder besonders alt noch besonders jung, weder besonders gebildet noch besonders dumm, sehr interessiert an der Gegenwart, sehr gelangweilt darüber, wie mir die Meinungsmoguln der Bestsellerlisten und des Feuilletons diese Gegenwart erklären. Als Journalist lese ich den ganzen Tag Zeitungen und Zeitschriften und frage mich: Könnte man die Welt, in der wir leben, nicht ein wenig origineller und genauer analysieren?
Dem Kursbuch gelingt das ganz gut. In Heft 176 entlarvt Gert G. Wagner die Doppelmoral im Kampf gegen Doping. Sportler, Sportfunktionäre und Zuschauer wissen ganz genau, dass Tiefschläge, versteckte Tritte, Regelübertretungen und Betrug zum Sport gehören. Weil außerdem die Gesundheit des Athleten wenig zählt, der Sieg aber alles, gibt es, genau genommen, keinen Grund, nicht zu dopen. In Wahrheit hoffen die Fans auch gar nicht, dass ihr Idol nicht dopt, sie hoffen, dass ihr Idol beim Dopen nicht erwischt wird. Armin Nassehi attackiert im gleichen Heft die Vorstellung, dass sich in einem »Dialog der Kulturen« Differenzen zwischen Christen und Muslimen, Eingeborenen und Eingewanderten versöhnen lassen. Tatsächlich treten diese Differenzen im Dialog der Kulturen erst so richtig hervor. Auf Veranstaltungen wie der Islamkonferenz, dem Karneval der Kulturen oder beim Besuch eines Gotteshauses einer anderen Religion ist man förmlich dazu gezwungen, einen Menschen, der Audi-Fahrer, Sachbearbeiter oder Kuchenliebhaber und zufälligerweise auch noch Migrant ist, nicht als Audi-Fahrer, Sachbearbeiter und Kuchenliebhaber anzusprechen, sondern eben nur noch als Migranten. Aus dem Migrationshintergrund wird der Migrationsvordergrund. Besser sei Gleichgültigkeit, meint Nassehi. Und er hat ja recht: Golfspieler und Fußballer verabreden sich ja auch nicht in ihren Klubhäusern, um ihre unterschiedlichen Lebensstile und Freizeitgewohnheiten zu entdecken und zu diskutieren.
Eigentlich ist es ganz einfach: Abweichung erzeugt Aufmerksamkeit. Das Kursbuch ist also immer dann interessant, wenn sich die Autoren nicht an gängige Rederoutinen und Denkdemarkationslinien halten, wenn sie noch einmal ganz anders und ganz kühl auf ein bekanntes Problem blicken und überraschende Sätze schreiben. Oft werden dabei linke oder pseudolinke Gewissheiten widerlegt (»Wir brauchen mehr Moral in der Wirtschaft«, »Wir müssen mehr miteinander reden«), aber das hängt wohl damit zusammen, dass die Rechten sich immer schon selbst widerlegen und es nach wie vor so etwas wie einen linken intellektuellen Mainstream gibt.
Für meine Generation, die mit den politischen Kämpfen der 60er- oder 70er-Jahre nichts anfangen kann und die Appellen von Religionslehrern oder Romanciers misstraut, ist dieser Kursbuch-Blick sehr attraktiv. Ich merke selbst, wie gut Argumente, die ich aus den Heften gezogen habe, in Diskussionen oder Streits funktionieren. Ich merke aber auch, dass meine Freunde, alles kluge, belesene Leute, die Artikel, von denen ich rede, gar nicht gelesen haben. Auch das Tagesfeuilleton bezieht sich nur selten auf das Kursbuch. Könnte es sein, dass die Hefte nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen? Ich kenne nicht die aktuellen Verkaufszahlen, aber wahrscheinlich würden mir Herausgeber, Chefredakteur und Verleger zustimmen, wenn ich sage, dass noch viel mehr Menschen das Kursbuch lesen sollten. Wie kann das gelingen?
Ich glaube, die Kursbuch-Autoren bräuchten noch ein genaueres Bild von ihrem Publikum, also: von Leuten wie mir. Es ist natürlich sehr erwartbar und daher ein wenig langweilig, wenn ein Journalist wie ich eine verständlichere oder bessere Sprache anmahnt. Deswegen halte ich mich damit nicht lange auf. Mir fällt aber auch auf, das viele Beiträge mit ihren umständlichen Einleitungen, historischen Verweisen, ihren vielen Fußnoten und ihrem Vollständigkeitsfimmel wie Artikel für eine Fachzeitschrift wirken. Ein universitäres Publikum muss man nicht für einen Text begeistern, weil ihn die Kollegen oder Studenten ja eh lesen müssen, um sich beim Fachgespräch im Aufzug oder im Seminar nicht zu blamieren. Ich bin aber ein Freizeitintellektueller. Ich bin durchaus bereit, lange Texte und schwierige Sätze zu lesen. Ich will keinen Autor, der mich auffordert, zur nächsten Demo zu gehen, wie das im alten Kursbuch der Fall war. Aber ich würde mich über einen Autor freuen, der nicht nur weit zurückgelehnt im Stuhl sitzt und entspannt die Welt betrachtet, sondern sich auch einmal vorbeugt, mich an der Hand packt und mir sagt, warum ich seinen Text unbedingt lesen muss, hier und jetzt.
Gut möglich, dass die Kursbuch-Autoren auch ein besseres Bild von sich selbst nötig hätten. Im Moralheft beschäftigt sich Irmhild Saake mit der aktuellen Symmetrisierungseuphorie: Wir hinterfragen die Autorität der klassischen Experten wie Arzt oder Professor, ertragen am Arbeitsplatz nur noch schlecht, dass es da einen Vorgesetzten und so etwas wie Hierarchie gibt, und wählen die Piraten, weil die sich genauso ahnungslos geben, wie wir selbst auch sind. Studenten, so Saake, sind mittlerweile so geübt darin, »auf Augenhöhe« zu diskutieren, dass sie es unanständig finden, wenn sich in einem Gespräch das bessere Argument auf Kosten eines anderen durchsetzt. Ich finde das eine brillante Beobachtung, es ist vermutlich auch die bisher witzigste Widerlegung der Habermas-Hoffnung auf das gute, demokratische Gespräch. Sie findet sich aber ganz versteckt, ganz am Ende ihres Textes, nach vielen Seiten über die Funktionsweise klinischer Ethikgremien. Mir fällt auf, dass viele Texte im Kursbuch sich eher an Mikroproblemen abarbeiten, anstatt eine große These zu wagen und diese selbstbewusst zu präsentieren. Es bräuchte mehr essayistischen Ehrgeiz, mehr Eitelkeit, um vor dem Publikum zu glänzen.
Eigentlich wollte ich noch sagen, dass sich die Kursbuch-Autoren nicht nur für sich selbst und ihre Texte, sondern auch für die Gegenwart mehr begeistern sollen. Ich finde die Heftthemen oft etwas willkürlich gewählt, viele Artikel wirken zeitlos, ohne Bezüge zu dem, was gerade passiert. Allerdings heißt ja das Thema des aktuellen Hefts »Privat 2.0«: Wieso empört sich niemand so richtig über die NSA? Ist das, was wir auf Facebook machen, eigentlich überhaupt noch mit der klassischen Trennung von privat und öffentlich zu fassen? Aktuellere Fragen gibt es wohl wirklich kaum. Es trifft sich also gut, dass meine Kritik hier zu Ende ist.