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Kalter Frieden

 

Inhalt

Armin Nassehi: Editorial

Johann Hinrich: Claussen Brief eines Lesers (16)

Wolfgang Schmidbauer: Der entgrenzte Suizid. Narzisstische Kränkung im kalten Frieden

Armin Nassehi: Gewalt als Normalfall. Warum der Frieden kalt bleiben muss

Karsten Fischer: Der Wahnsinn von Jahrtausenden. Der kalte Frieden als Hoffnungsschimmer

Ulrike Guérot: Einmal heißer Krieg – kalter Frieden und zurück. Das Ende der europäischen Friedenserzählung

Micha Pawlitzki: Zwentendorf

Bernd Stiegler: Bildersturm. Ideologische Besetzungen der Fotografie in der Gegenwart

Deniz Yücel: Und morgen die ganze Türkei. Der lange Aufstieg des Recep Tayyip Erdoğan

Manon Clasen, Stephan G. Humer: Digitalkrimi. Ein Bericht zur Lage des Cyberterrorismus

Klaus Hofmann: Das Märchen von Kanaan. Eine literarische Utopie für Israel und Palästina

Anhang

Die Autoren

Impressum

Armin Nassehi
Editorial

Dass Frieden, verstanden als die Abwesenheit von Krieg, von geplanter oder roher Gewalt, von militärischen Auseinandersetzungen, von Tod und Zerstörung seinem Gegenteil vorzuziehen ist, ist trivial. Weniger trivial ist, von welchem Frieden die Rede ist. In der Kriegstheorie von Clausewitz war der Krieg letztlich das Mittel, der Frieden der Zweck, der sich freilich vom Kriege her verstand. Insofern hat der Krieg mehr Informationswert, weil er eben als Mittel Sichtbareres erzeugt als sein Derivat, der Frieden. Man mache nur den Test und suche nach Medienmeldungen über den Krieg und solchen über den Frieden. Der Krieg kommt gewissermaßen aus eigener Logik vor. Er ist für sich eine Meldung wert. Er hat Ereignischarakter und macht damit einen Unterschied. Der Frieden ist dagegen nichts, das aus eigener Kraft einen Informationswert hätte, sondern nur als negativer oder (wie man will) positiver Gegenwert des Krieges.

In diesem Kursbuch geht es um Temperamente. Der kalte ist dem heißen Krieg allemal vorzuziehen – und erstaunlicherweise gilt das auch für den Frieden. Wir nennen dieses Kursbuch Kalter Frieden, weil wir skeptisch sind, dass ein »heißer Frieden«, also einer, der starke Voraussetzungen im Hinblick auf gemeinsame Bekenntnisse, auf friedliche Mobilisierung, auf starke Gefühle und hohen Energiefluss hat, unrealistischer ist als ein kalter Frieden. Ein kalter Frieden gibt sich schon damit zufrieden, dass die zivilisatorische Eisdecke hält – denn je heißer der Frieden begründet wird, desto heißer müsste er auch verteidigt werden. Vielleicht ist die größte Utopie, alle Amplituden möglichst niedrig zu halten. Deshalb legen wir ein Kursbuch vor, das sich in erster Linie mit Temperamenten beschäftigt. Die Beiträge ringen alle um das angemessene Maß an kühlem Temperament.

Wolfgang Schmidbauer weist darauf hin, wie brüchig die zivilisatorische Eisdecke ist, wenn es zu Selbstgefühlskrisen kommt, Karsten Fischer weist auf die zivilisatorische Leistung des Irrtumsvorbehalts bei allen Entscheidungen hin, und Ulrike Guérot plädiert dafür, die Friedensordnung Europas endlich von ihrer Kriegsgeschichte zu emanzipieren.

Bernd Stiegler zeigt, wie selbst die bildliche Darstellung des Grauens in Zeiten des kalten Friedens der Selbststabilisierung dient. Deniz Yücel rekonstruiert die Geschichte der Türkei, deren innerer Frieden stets an ziemlich heißen Konfliktlinien mühsam und oft wenig erfolgreich verteidigt werden musste, und Manon Clasen und Stephan G. Humer machen drauf aufmerksam, dass das Internet anders, als der erste Eindruck im Hinblick auf den semantischen Zivilisationsverlust in den sozialen Medien suggeriert, ein weniger gefährlicher Ort ist, als man bisweilen erwartet. Mein eigener Beitrag weist darauf hin, dass Gesellschaften nur pazifiziert werden müssen, weil sie es nicht per se sind.

Klaus Hofmanns literarisches Stück handelt von einer fiktiv-utopischen Republik Kanaan, die das heutige Israel mit den Palästinensern in einem Staat vereinigt. Das Stück ringt um niedrigschwellige Formen eines friedlichen Zusammenlebens und ist ebenfalls vor allem temperamentsensibel.

Die Beiträge dieses Kursbuchs entfalten keine gemeinsame Programmatik, kommen aber aus ganz unterschiedlichen Perspektiven darauf, welcher Vorteil es sein könnte, das, was uns zusammenhält, möglichst niedrigschwellig und kühl zu halten. Das ist weniger pathetisch als andere Lösungen, aber produziert dann vielleicht auch weniger Pathologisches, wenn man den Verlust zivilisatorischer Selbstkontrolle mit guten Gründen für einen ungesunden Zustand hält.

Die Fotografien des österreichischen Atomkraftwerks Zwentendorf das nie ans Netz gegangen ist, also kalt und friedlich blieb, sind gerade in ihrer aufdringlichen Kälte faszinierend. Micha Pawlitzkis Aufnahmen negieren das Pathos geradezu pathetisch!

Wir danken Johann Hinrich Claussen für den 16. Brief eines Lesers.

Johann Hinrich Claussen
Brief eines Lesers (16)

Ein akademischer Lehrer von mir hatte – so erzählte er zumindest, ich habe es natürlich nie überprüft – immer das aktuelle »Kursbuch« der Bahn auf seinem Nachttisch liegen. Anders als andere Leute las er kein Buch, um nachts in den Schlaf zu finden. Bücher las er ja schon den ganzen Tag. Um diesen hinter sich zu lassen, griff er lieber zum »Kursbuch«, dachte sich eine Reise aus und suchte dann die eleganteste Verbindung. Bei großer, schon bereitstehender Müdigkeit mag das nur die Strecke Tübingen–Göttingen gewesen sein. Wenn der Schlaf aber so gar nicht kommen wollte, wird er gezwungen gewesen sein, die Züge von Bilbao nach Detmold herauszusuchen. Inzwischen hat die Deutsche Bahn den Druck von »Kursbücher« aufgegeben. Man braucht sie nicht mehr in papierener Form. Online steht das gesamte Verbindungswissen der Bahn viel besser und schneller zur Verfügung. Für meinen Professor brachte dieser Zugewinn an Bequemlichkeit den Verlust eines lebenslangen Vergnügens und einer verlässlichen Einschlafhilfe. Ich weiß nicht, was ihn seitdem zur Nachtruhe bringt.

Um heute Verbindungen zu ziehen, braucht es kein »Kursbuch«. Nichts ist leichter, als von A nach B zu kommen. Das ist selbstverständlicher digitaler Service und keine gedankliche Leistung mehr. Deshalb reagiere ich eher müde, wenn ich intellektuelle Richtungsanzeigen lese. Allgemeine Begriffe, soziologische Generalthesen, epochale Einteilungen, Zuordnungen von Phänomenen zu Trends – solche Verknüpfungen interessieren mich wenig. Sie überraschen mich nicht, schließen mir nichts auf, stoßen bei mir keine neuen eigenen Gedanken an. Sie erscheinen mir im tieferen Sinne als langweilig: weil sie ohne Überraschungen sind und weil ihre Leistung sich darauf beschränkt, das Chaos der Dinge und Ereignisse in eine gedankliche Ordnung zu bringen. So funktionieren Geistes- und Gesellschaftswissenschaften leider zu einem großen Teil: Sie nehmen sich Phänomene vor, geben ihnen Namen, kategorisieren sie, stellen sie an einen bestimmten Ort in einem System und haben so die verwirrende Wirklichkeit zumindest gedanklich aufgeräumt. Doch was ist damit erreicht?

Auch frage ich mich: Wenn es heute so leicht ist, Verbindungen zu ziehen und selbst von einem Ort zum anderen zu gelangen, braucht es dann noch ein »Kursbuch«, das einem Richtungen anzeigt? Oder müsste die Aufgabe einer solchen Publikation nicht eher darin bestehen, einen den Ort sehen und verstehen zu lassen, an dem man gerade ist. Denn so flink man die Informationen erhält, wie man von hier nach dort gelangt, so schwer ist es doch, den eigenen Lebensstandort zu durchschauen und die Lebenswelt anderer im Ernst kennenzulernen. Deshalb interessieren mich dichte Beschreibungen konkreter, exemplarisch bedeutsamer Dinge.

Deshalb hat mich beim letzten Kursbuch mit dem Titel Welt verändern der Beitrag ohne Worte am meisten begeistert. Fotos von Olaf Unverzart zum 100. Geburtstag seiner Großmutter. Man sieht einen Menschen, der sich sehr verändert hat und sich doch etwas Unveränderliches bewahrt zu haben scheint: die sehr alte Frau und ihr Gebet, durchscheinende Haut und alternde Gewänder, Frühlingsbaum und Rosenkranz, Schwäne und Hörgerät, Ehering und karges Brot mit Fleischsalat, Papstbilder und dritte Zähne. Als ich diese Fotos betrachtete, die zeigen, was hier noch da ist, fragte ich mich, warum man eigentlich die Welt immerzu verändern will. Sie verändert sich ja schon selbst – ganz von allein. Es würde doch genügen, wenn man auch nur etwas von dem Guten bewahrte.

Wer je in irgendeiner Institution Verantwortung getragen hat, weiß, welche administrative, gedankliche und körperliche Anstrengung es kostet, gute Dinge zu bewahren und Normalität am Leben zu erhalten. Vielleicht reden deshalb viele Verantwortungsträger lieber davon, »Zukunft zu gestalten«, irgendetwas »zukunftsfähig zu machen« und was der hässlichen Floskeln mehr ist. Eine halbwegs gelingende Normalität, ein geregelter Alltag ohne Not und Grauen, eine verlässliche Herrschaft des Rechts, eine gute Ordnung – das wäre schon ziemlich viel. Deshalb nähere ich mich dem neuen Heft mit einer skeptischen Neugier. Sein Titel lautet Kalter Frieden. Das Adjektiv »kalt« ist meist negativ besetzt: Kalter Kaffee schmeckt scheußlich, kalte Menschen sind ohne Liebe, bei kalter Nässe geht man nicht raus. Das Gegenteil lautet entweder »heiß« – das klingt wild, schön, begehrenswert – oder zumindest »warm« – also freundlich, bergend, vertrauenswürdig. Heißt dies, dass ein »kalter Frieden« weniger wert wäre als ein »heißer Krieg«, nicht viel besser als ein »kalter Krieg«? Aber wie soll ein Frieden denn sein, wenn nicht kühl? Frieden ist ja kein Garten Eden, der so wohltemperiert ist, dass man wie Adam und Eva nackt in ihm herumgehen kann. Frieden ist Recht und Ordnung, Schutz vor Raub und Mord, Gesetz und Gefängnis, eine Grenze für die Gewalthaber und Gewalttäter, Lebensmittelkontrolle und Eingangsstempel, Emissionsschutz und Zebrastreifen. Frieden ist der kahle, nüchterne Platz, auf dem Konflikte fair und ohne größere Verletzungen ausgetragen werden. Er lebt deshalb von der Herabregelung der Temperaturen. Er ist notwendigerweise kühl oder – besser gesagt – lau.

Das Laue aber wird gern verachtet (Jesus von Nazareth hat es vorgemacht). Aber wie viel wert ein lauer Frieden ist, zeigt schon der Blick über den Atlantik. Indem die Vereinigten Staaten von Amerika bestimmte Gesetzesverstöße nicht im Rahmen einer Friedensordnung, nämlich polizeilich, bekämpfen, sondern ihnen den Krieg erklärt haben (war on terror, war on drugs), sind sie in einen Kampf gezogen, den sie nicht gewinnen werden und in dem sie Wesentliches von dem, was sie im Kern ausgezeichnet hat, verloren haben. Deshalb möchte ich verstehen, was einen – kalten, kühlen oder lauen – Frieden auszeichnet und wie er bewahrt werden kann. Denn er ist der Ort, an dem ich lebe und leben will. Ich bin gespannt, ob das neue Kursbuch nicht erklärt, wo es von hier aus hingeht, sondern wie ich dieses Hier und Jetzt so verstehen kann, dass ich einen Beitrag zu seinem Erhalt zu leisten vermag. Dann wäre es mir keine Einschlafhilfe, sondern eine aufregende Lektüre.