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Ina Sembt

FÜREINANDER BESTIMMT

Roman

© 2015

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ISBN 978-3-95609-121-6

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Für alle Leserinnen, die ihr Schicksal meistern

7

Nach der Sprechstunde saß Ute in einem ihrer Behandlungsräume, um sich ein wenig zu sammeln. Heute war ein stressiger Tag gewesen. Der Strom der Patienten hatte nicht abreißen wollen. Und dennoch tauchte zwischendurch immer wieder Kristins Bild vor ihrem inneren Auge auf, das sie ein ums andere Mal innehalten und lächeln ließ.

Die vielen Begegnungen, die sie inzwischen gehabt hatten, bildeten schöne Erinnerungen, in denen sie sich verlieren konnte. Fast würde sie Kristin als Freundin bezeichnen. Jemanden wie Kristin hatte sie bisher nie gehabt: eine Freundin, die immer für sie da war, mit der sie alles besprechen konnte. Das hatte ihr gefehlt, seit sie denken konnte.

Und sie fühlte eine Unbeschwertheit mit Kristin, die sie lange vermisst hatte. In ihrem täglichen Leben gab es diese unbekümmerte Ausgelassenheit nicht, die sie jetzt mit dieser Fremden erlebte – denn das war Kristin genau genommen für sie, auch wenn sich eine zarte Freundschaft entwickelte.

Aber sie hatte keine Sekunde das Gefühl, dass Kristin ihr fremd sei. Ganz im Gegenteil: Sie kam ihr so vertraut vor wie kaum eine ihrer anderen Freundinnen, die im Grunde nur deshalb Freundinnen waren, weil sie sich schon seit der Kindheit kannten und immer noch im selben Dorf wohnten.

Und Robert hat auch schon gefragt, warum ich in letzter Zeit so fröhlich von der Arbeit komme . . . Vor ein paar Tagen hatte er sich darüber beschwert, dass sie nur noch in der Arbeit war. »Oder hast du einen Liebhaber?«, hatte er leichthin gefragt, doch die Anspannung in seiner Stimme hatte ihn verraten. Er hatte Angst vor ihrer Antwort gehabt.

»Du spinnst doch«, hatte Ute geantwortet und ihm einen Vogel gezeigt. »Wann soll ich denn dafür noch Zeit haben?« Ob ihm aufgefallen war, dass sie dieses Mal nicht dieselbe Antwort gegeben hatte wie sonst immer, wenn er nach einer Liaison mit einem anderen Mann fragte, weil sie das Arbeiten wieder einmal übertrieb: »Ich hab doch dich, was brauch ich da einen Liebhaber?«

Eigentlich hatte sie sich gewundert, dass ihm überhaupt noch etwas auffiel. In den letzten zwei Jahren hatten sie viel gestritten. Und vor etwa einem halben Jahr hatten sie eine stillschweigende Übereinkunft getroffen, eine Art Waffenstillstand: Wir streiten nicht mehr, aber wir reden auch nicht mehr. Die Frage nach dem Liebhaber hatte sie daher überrascht – zumal Robert selbst seit vielen Jahren regelmäßig fremdging. Das war Ute schon lange klar. Bisher jedoch hatte sie ihn in dem Glauben gelassen, dass sie von nichts eine Ahnung habe.

Sie hoffte, dass er jetzt nicht auf einmal regelmäßig auf solch einer Aussprache bestand, denn davor fürchtete sie sich. Sie wusste, wie diese »Aussprachen« abliefen. Er würde mehr oder weniger grundlos ausrasten, sich später entschuldigen, Besserung geloben, und danach würde jeder wie gehabt seiner Wege gehen – bis wieder etwas passierte, das Robert nicht passte, und ihm vielleicht sogar noch einmal die Hand ausrutschte. Da war Ute die absolute Funkstille lieber. Aber in letzter Zeit entzog sich Robert sowieso immer häufiger, schützte Arbeit vor, blieb länger als nötig auf Baustellen.

Merkwürdig, dass sie noch nie darüber nachgedacht hatte. Aber erst jetzt fiel Ute auf, dass sie diesen Zustand äußerst unbefriedigend fand. Vom Sex ganz zu schweigen; wenn er mal stattfand, ließ sie ihn stillschweigend über sich ergehen. Ja, Befriedigung verschaffte ihr Robert schon lange nicht mehr. Und sie musste zugeben, dass sie nichts vermisste. Jedenfalls in dieser Hinsicht.

Aber ihr wurde klar, dass ihr etwas entging. Diese Unbeschwertheit, die sie mit Kristin spürte, hatte sie zuletzt zu Beginn der Verliebtheit mit Robert empfunden. Und das ist arg lang her, dachte sie bedauernd und zog die Stirn in Falten. Doch jetzt freute sie sich auf die Zusammenkünfte mit ihrer Patientin so sehr wie schon ewig nicht mehr auf irgendetwas. Sie gierte regelrecht danach. Aber um nichts in der Welt hätte sie sich das eingestanden.

Und am Hubertussee hatte sie einmal gedacht: Wir hatten einen schönen Nachmittag. Wie leicht ihr das »Wir« durch die Gedanken gezogen war. Dieses Wir hatte es zu Beginn ihrer Ehe mit Robert auch gegeben, aber ziemlich schnell hatte es einen schalen Beigeschmack angenommen, und allmählich war es vollständig verschwunden. Sie hatte wieder »ich« zu sagen gelernt. Wieso jetzt dieses Wir?, fragte sie sich. Ich kenne sie doch kaum.

Einerseits Fremde, andererseits diese große Verbundenheit, die Ute nicht leugnen konnte . . . das war verwirrend. Und plötzlich erschien ein Bild vor ihrem inneren Auge, das sie noch mehr verwirrte: Sie beugt sich zu Kristin und küsst sie.

Schnell schloss sie die Augen, um das Bild zu verscheuchen. Öffnete sie wieder, als es nicht half.

Während sie mit Kristin in dieser idyllischen Landschaft und der paradiesischen Ruhe auf der Bank am See gesessen hatte, war das Unbehagen, das sich in ihrem Leben ausgebreitet hatte, nachdem Robert die Hand ausgerutscht war, unvermittelt in ihr aufgewallt. Unbehagen ist wirklich die Untertreibung des Jahrhunderts, dachte sie. Gefühlschaos, Achterbahnfahrt, freier Fall wären wohl angebrachtere Ausdrücke. In dieser harmonischen, friedlichen Zweisamkeit war es aus ihr herausgebrochen. Und dann hatten ihre zwiespältigen Gefühle auch zu einem ambivalenten Verhalten Kristin gegenüber geführt: Sie hatte Kristin am Tag ihres Tränenausbruchs höchst verwirrt zurückgelassen, war ihr danach immer wieder aus dem Weg gegangen und hatte sich schäbig dabei gefühlt. Auf der anderen Seite hatte sie ihr schließlich erzählt, dass Robert sie fast geschlagen hätte. Das hatte sie noch niemandem anvertraut. Es war in den vergangenen Jahren hin und wieder vorgekommen, aber sie hatte immer gedacht, das ginge niemanden etwas an. Doch diesmal hatte sie gewollt, dass Kristin verstand, was mit ihr los war. Warum sie nicht so gut drauf gewesen war am See.

Wieder stark untertrieben, dachte Ute, es ging mir beschissen.

Dann ließ sie noch einmal Kristins Blicke Revue passieren. Diese Blicke, die immer ein wenig länger waren als nötig und ein wenig intensiver als gewohnt. Mehr als einmal hatte Utes Herz Kapriolen geschlagen, wenn Kristin sie so ansah. Und ihre Berührungen lösten Stromschläge aus, die Ute durch den ganzen Körper fuhren. Sie fühlte sich plötzlich wieder lebendig.

Kristin strahlt so eine Ruhe und Stärke aus, ging es ihr durch den Kopf. Wie macht sie das nur? Nein, falsche Frage: Warum reagiere ich so auf sie? Mit ihr ist alles so leicht. So schön.

Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie sich gern in Kristins Augen verlieren würde. Und am allerliebsten einfach in Kristins Arme werfen.

Ein wenig erschrak sie über sich selbst. Sie wollte lieber gar nicht so genau wissen, wo solche Wünsche und Ideen herkamen. Sie ist einfach eine richtige, gute Freundin. Das schien doch eine zufriedenstellende Erklärung zu sein.

6

Kristin strahlte, als sie Ute Würzburger in den Gastraum kommen sah. Sie selbst hatte sich gerade »An Vierterl Obi auf an Holbn g’spritzt« bestellt. Das konnte sie inzwischen ohne Probleme aussprechen, und sie bekam sogar, was sie wollte: einen halben Liter Apfelschorle.

Als die Ärztin näher kam und sich zwischendurch halb umwandte, um Maike zu begrüßen, musste Kristin unwillkürlich schlucken. Zum ersten Mal sah sie Ute in engen Radlerhosen, die den Blick auf durchtrainierte Beine und einen festen Po freigaben. Aber was hätte sie auch sonst tragen sollen? Beim letzten Akupunkturtermin hatten sie sich für heute Nachmittag zum Radeln aufs Gscheid verabredet. Es war Mittwoch, und an diesem Tag war die Praxis ganztägig geschlossen. Auch Hausbesuche gab es mittwochs selten. Seit dem Gewittertag wusste Kristin, dass die Ärztin dann regelmäßig ihre Abrechnungen in dem kleinen Büro der Praxisräume erledigte.

Aus den überschaubaren Öffnungszeiten auf dem Praxisschild hatte sie zuerst geschlossen, ihre neue Ärztin würde sich einen ganz schönen Lenz machen. Aber dann hatte sie nach und nach mitbekommen, dass Ute außer ihrer Praxis noch zahlreiche andere Aufgaben bewältigte: Sie war die Unfallärztin des Distrikts und wurde des Öfteren auch nachts gerufen; sie war Obfrau zahlreicher Vereine und darüber hinaus auch noch deren Vereinsärztin; nicht zuletzt war sie Mannschaftsärztin der Jugendmannschaft des ortsansässigen Fußballvereins, in der ihr Sohn Tobias spielte. An ihrem ersten Sonntag im Dorf hatte Kristin sie nur deshalb nicht auf dem Fußballplatz finden können, weil sie zu einem Notfall gerufen worden war. Sie war also sogar sonntags vormittags als Ärztin im Einsatz. Und dann war sie vor kurzem auch noch zur Gemeinderätin gewählt worden. Sie arbeitet zu viel, hatte Kristin mehr als einmal gedacht, als sie von all diesen kleinen »Nebenjobs« erfuhr. Kein Wunder, dass ihr Lächeln meistens so angespannt ist. Dabei steht ihr das befreite Lachen aus voller Kehle viel besser.

Umso mehr hatte sie sich gefreut, als die Ärztin vorgestern in der Praxis diesen Ausflug vorgeschlagen hatte. Sie hatte ihr sogar schon einen fertigen Plan unterbreitet: zuerst ein leichtes Mittagessen im Gasthof, dann würden sie Utes Rad aus der Praxis holen, das sie dort deponiert hatte. Ihre Kinder würde die Ärztin ausnahmsweise vorher von der Schule abholen und für den Nachmittag zur Oma bringen, und ihre Abrechnungen würde sie am nächsten Mittwoch erledigen. Die Großeltern würden die Kinder abends zu Hause absetzen. Robert, der Vater, war zwar ähnlich vielbeschäftigt wie seine Frau, aber inzwischen waren die Kinder groß genug, dass man sie auch einmal allein zu Hause lassen konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass sie die Bude abfackelten. So hatte es die Ärztin Kristin zumindest erklärt.

»Na, ich hoffe, Sie sind gut vorbereitet für die große Tour«, begrüßte sie Kristin jetzt und setzte sich dicht neben sie.

»Aber immer!«, antwortete Kristin und strahlte noch mehr. Sie konnte spüren, dass sich ihre Wangen mit einer leichten Röte überzogen. Die Ärztin plötzlich so nah neben sich zu wissen, löste eine Hitzewelle in ihrem Inneren aus.

Wie um sich selbst zu bestätigen, dass sie Zeit für diese kleine Eskapade hatte, sagte Ute: »Ich will heute jedenfalls über nichts nachdenken, sondern den Ausflug mit Ihnen genießen. Und ich nehme die Herausforderung an. Wir werden sehen, wer schneller auf dem Berg anlangt: Sie oder ich.« Bei den letzten Worten senkte sie die Stimme dramatisch.

Kristin wusste, dass die Ärztin sehr sportlich war. Nahezu täglich sah sie sie in ihrer Mittagspause mit dem Mountainbike am Gasthof vorbeifahren. Darüber hinaus joggte und walkte sie viel. Sie wäre eine echte Konkurrentin.

Kristin hatte bei ihrer Planung in der Praxis die Bedingung gestellt, bis zum Ahornhof mit dem Auto zu fahren – das wäre der sanfte Beginn der Steigung. Wenn sie die ganze Strecke mit dem Rad hätte zurücklegen müssen, hätten ihre Beine keine Reserven mehr für den Anstieg gehabt. Großzügig hatte Ute zugestimmt: »Ich will ja keine Wettbewerbsverzerrung. Ich weiß, dass diese Tour eine große Aufgabe für Sie ist, weil die Gliedmaßen nun mal nicht so funktionieren wie bei einer Gesunden. Aus ärztlicher Sicht ist das Vorhaben nicht ganz unbedenklich.« Aber bevor Kristin protestieren konnte, fuhr sie schon fort: »Aber ich weiß ja auch, dass Sie hart trainieren. Deshalb bin ich mir sicher, dass Sie diese Anstrengung gut überstehen werden, sonst hätte ich den Vorschlag gar nicht gemacht. Außerdem bin ich ja auch jederzeit zur Stelle, falls Erste Hilfe nötig ist. Und eine kleine Arztausstattung habe ich eh immer dabei.«

Als sie jetzt nebeneinander beim Mittagessen saßen – einem leichten Sommersalat mit dem köstlichen Essig-Öl-Knoblauch-Dressing der Chefin –, fragte sich Kristin, ob die Ärztin wohl zur Kenntnis genommen hatte, dass sie trotz ihres Handicaps gut durchtrainiert war. Bei den Besuchen in der Praxis dürfte ihr das nicht entgangen sein. Wahrscheinlich war sie deshalb überhaupt nur auf diese Idee gekommen. Kristin gestattete sich eine leichte Aufwallung von Stolz.

Dann fragte sie vorsichtig: »Wo wir bald Sportskameradinnen sind, wäre doch vielleicht das Du angemessen, finden Sie nicht?« Gleich darauf wünschte sie, sie hätte sich die Frage verkniffen. Frau Dr. Würzburger zeigte sich ja meist eher zurückhaltend. Vielleicht wäre ihr eine Verschwisterung mit einer neuen Patientin gar nicht recht.

Doch die Zweifel waren unbegründet. »Stimmt«, sagte die Ärztin unbekümmert. »Ich bin Ute.« Sie hielt Kristin ihr Wasserglas entgegen.

Kristin stieß ihr Glas dagegen. »Kristin.«

»Auf einen gelungenen Anstieg!«, wünschte sich Ute.

Bald darauf machten sie sich auf den Weg zum Ahornhof. Kristin hatte ihr Rad bereits vor dem Essen mit Hilfe des Seniorchefs in den großen Stauraum ihres Kangoo geladen. Utes Rad passte auch noch bequem hinein.

Das Wetter war nicht ganz so warm wie sonst im Sommer hier üblich, aber perfekt für einen sportlichen Ausflug. Als sie nach einer guten Stunde in der Jausenstation des Gscheid ankamen, war Ute überrascht, dass sie tatsächlich nur zweite Siegerin war. Sie lächelte Kristin anerkennend an, als sie ihren Helm absetzte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du gegen mich gewinnst.«

Kristin hatte zusammen mit ihrem Antrieb ein beachtliches Tempo vorgelegt und diese Geschwindigkeit nahezu bis zum Schluss durchhalten können. Allerdings musste Ute sie jetzt beim Gang zu dem kleinen Rasthaus stützen. Kristin hatte ihre Beine doch überanstrengt, und nun versagten sie den Dienst.

»Da hast du wohl ein wenig übertrieben«, stellte Ute besorgt fest. Sie hielt Kristins Taille umfangen, während Kristin einen Arm um Utes Hals geschlungen hatte.

»Das war es mir wert.« Kristin lächelte, wenn auch ein wenig gequält. Die Treppenstufen, die zum Eingang hinaufführten, hatten es trotz Utes Hilfe in sich.

»Wie lang brauchen deine Beine zur Regeneration?«, fragte Ute. »Ich meine nur wegen des Rückwegs.«

»So einer Anstrengung habe ich mich lange nicht ausgesetzt«, antwortete Kristin schwer atmend, »ich weiß nicht, wie lange es dauert. Aber es geht ja zum Glück bergab. Das beansprucht höchstens die Bremsen meines Rades über Gebühr. Und wenn ich den Modus ›Aufladen‹ einschalte, muss ich die Bremsen wahrscheinlich fast gar nicht benutzen, weil dadurch die Geschwindigkeit automatisch gedrosselt und gleichzeitig der Akku aufgeladen wird.«

»Ach, das geht auch?«

»Ja, und es erhöht die Reichweite des Antriebs enorm.« Kristin lachte: »Aber heute wohl kaum. Der Akku ist fast leer.« Mit einer Hand hielt sie sich am Geländer fest. »Lass uns einen Moment anhalten«, bat sie.

Ute nickte. Ihr Körper drückte sich warm gegen Kristin, und ihr linker Arm hielt Kristins Taille ganz fest. Kristin spürte die Hitze, die ihre Ärztin ausstrahlte, durch ihr T-Shirt hindurch. Dass ihr selbst ganz heiß geworden war, lag bestimmt an der Anstrengung. Ebenso wie ihr erhöhter Puls. Sie konnte fühlen, dass ihr Gesicht glühen musste.

Ein Blick zur Seite offenbarte ihr, dass auch Utes Wangen gerötet waren. Trotz ihrer Erschöpfung konnte Kristin noch denken: Sie sieht verdammt sexy aus.

Als sie endlich im Gasthaus saßen, klopfte ihr Herz immer noch stärker, als es sollte. Sie prosteten sich zu. Fast mit Gewalt musste sich Kristin zwingen, irgendwann den Blick abzuwenden. Utes braune Augen übten eine unwiderstehliche, fast magische Anziehungskraft aus.

In zweifelndem Tonfall sagte Ute: »Ich weiß nicht, ob ich aus ärztlicher Sicht diese Überanstrengung befürworten soll.«

»Das mache ich ja nicht jeden Tag«, erwiderte Kristin beschwichtigend. »Außerdem habe ich bis jetzt meine Muskeln nach und nach aufgebaut. Behutsam. Die Basis ist also da. Meine Muskulatur wird sich schon wieder erholen. Aber es war doch anstrengender, als ich dachte.«

»Du wolltest es mir also nur zeigen?« Utes Augen lächelten. Doch Kristin entging nicht, dass ihr Mund zusammengepresst war.

Sie lachte. »So ist es! Ist mir doch auch gelungen, oder?«

Ute nickte, und Kristin war einmal mehr gefangen, fast erschrocken von der Tiefe ihres Blickes. Sie meinte Zärtlichkeit und unendliche Warmherzigkeit darin zu lesen. Ihr Puls startete erneut durch. Dann senkte Ute die Lider.

Etwa eine Stunde saßen sie in der Jausenstation und sprachen über alles Mögliche. Kristin fiel nicht zum ersten Mal auf, dass der verbissene Zug um Utes Lippen rasch verschwand und sie auch bald wieder frei und unbeschwert lachte. Sie liebte dieses ungezügelte Lachen, das Ute nur dann hören ließ, wenn niemand anderer in der Nähe war. Heute war es sogar besonders unbändig. Sie schien sich in Kristins Gegenwart richtig wohl zu fühlen.

Aber irgendwann wirkte sie zusehends nachdenklich. Zuerst stellte sie das Reden ein, dann das Lachen, was Kristin sehr bedauerlich fand. Und schließlich legte sich ihre Stirn in Falten, die nicht mehr verschwanden. Kristin hätte gern nachgefragt, was los sei. Aber sie war sich nicht sicher, wie sie das hätte anstellen sollen, ohne aufdringlich zu sein.

»Meinst du, deine Beine sind für die Abfahrt bereit?«, fragte Ute schließlich.

Das war ein gutes Stichwort. »Du machst dir aber jetzt keine Gedanken, dass ich mich übernommen haben könnte, oder?«, fragte Kristin vorsichtig.

Ute deutete ein Kopfschütteln an. »Ich hatte gedacht, wir fahren noch zum Hubertussee hinunter.« In ihren dunklen Augen flackerte kurz etwas wie Erschrecken auf, als könne sie selbst nicht glauben, dass sie diesen Vorschlag gemacht hatte. Eilig fügte sie hinzu: »Ich habe irgendwie noch keine Lust auf den Trubel zu Hause.«

Ihr Blick war jetzt traurig. Kristin begann zu verstehen. Und sicher auch nicht auf das Gemuffel und Gezeter deines Mannes, dachte sie.

Der Vorschlag selbst versetzte sie allerdings in leichte Panik. »Du meinst – nicht zurück, sondern hinunter und hinterher wieder rauf?« Sie wusste vom Blick auf die Karte, dass es zu dem See ordentlich bergab ging, und hinterher musste natürlich alles wieder bergauf geradelt werden. Das dürfte sie selbst mit dem Antrieb nicht mehr schaffen, einmal abgesehen davon, dass der Akku fast leer war.

»Nein, das meinte ich nicht.« Utes Stimme war sanft und fast liebevoll. »Ich dachte, wir fahren zu deinem Auto zurück, laden die Räder ein, fahren mit dem Auto zum See und ruhen uns noch ein wenig aus. Um diese Zeit ist es dort herrlich: Die Touristen sind schon weg und die Einheimischen noch nicht da. Es herrscht eine Ruhe . . .« Ihre Augen blickten in die Ferne und hatten einen träumerischen Ausdruck angenommen. »Die Atmosphäre ist atemberaubend: die Berge ringsum und mittendrin der See.«

Kristin nickte. »Ich hab es mir schon auf der Karte angesehen. Einmal mit dem Rad drum herumzufahren, das stelle ich mir auch schön vor.«

»Damit bist du schnell fertig. Er ist nicht sehr groß. Ein Spaziergang ist sicher lohnenswerter.« Ute sah Kristin an und schob rasch nach: »Wenn deine Beine sich wieder erholt haben. Eine solche Wanderung nach dieser anstrengenden Gewalttour wäre jedenfalls unverantwortlich.«

»Göttin sei Dank«, sagte Kristin erleichtert. »Ja, ich hätte auch große Lust, jetzt einfach noch faul am See zu sitzen . . .« . . . und meinen Arm um dich zu legen und dir sanft über die Schultern zu streicheln. Sie lächelte Ute an. Die ließ es diesmal zu, dass Kristin ihren Blick festhielt. Für einen langen, verzauberten Moment sahen sie sich stumm in die Augen.

Dann blinzelte Ute und schlug in beinahe übermütigem Ton vor: »Und vielleicht können wir später einmal mit dem Rad dort herumfahren. Es gibt eine kleine Straße durchs Fadental, die wir entlangradeln könnten. Die Gegend ist wunderschön. Das Auto nehmen wir dann bis dahin mit . . . Geht es allein, oder brauchst du meine Hilfe?«

»Vielleicht nimmst du einfach meine Hand. Der Rest wird schon gehen.« Kristin hielt ihr zum Aufstehen ihre rechte Hand hin. Ute ergriff sie mit ihrer Linken. Die Berührung verursachte einen kleinen Stromschlag, den Kristin mit aller Willenskraft zu ignorieren versuchte. Ich brauche nur ihre Hilfe, versicherte sie sich selbst.

Hand in Hand gingen sie zu ihren Rädern. Wie ein verliebtes Paar . . . Aber Kristins Gang war tatsächlich noch recht wackelig nach der enormen Anstrengung der Bergfahrt. Sie drückte Utes Hand sehr fest. »Ich hoffe, ich zerquetsche sie nicht.«

»Hauptsache, du fällst nicht hin«, sagte Ute. Auch sie griff fest zu. Vielleicht fester, als eigentlich nötig gewesen wäre, schoss es Kristin durch den Kopf. Dann schüttelte sie sich. Was waren das nur für Gedanken und Gefühle, die in Utes Nähe unweigerlich auftauchten? Sie hatte sich nicht in eine heterosexuelle Frau verlieben wollen. Sie sollte vorsichtiger sein. Wenn sie ihre Reaktionen nicht besser unter Kontrolle bekam, würde sie das gute Verhältnis zu ihrer Ärztin noch aufs Spiel setzen – und eine mögliche gute Freundschaft gleich dazu.

Doch das gelang ihr erst, als ihr der Fahrtwind um die Nase wehte und die Talfahrt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit forderte.

Ein wenig später saßen die beiden Frauen am Hubertussee auf einer Bank und blickten über das stille Gewässer. Kristin spürte eine tiefe Ruhe. Und die Gegenwart ihrer Ärztin. Letztere sogar überdeutlich. Sie saßen nah beieinander, fast berührten sich ihre Oberschenkel.

Ob sie diese Stimmung genauso wahrnimmt wie ich?, fragte sich Kristin. Dieses Knistern zwischen uns? Sie wagte einen Blick zur Seite. Ute hatte die Augen geschlossen, und ihr Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Kristin kam nicht umhin zu registrieren: Ihre Oberweite scheint genau richtig. Unwillkürlich musste sie grinsen. Gleichzeitig schüttelte sie innerlich den Kopf über sich selbst.

Doch Utes Formen entsprachen tatsächlich genau der Figur, die sie an Frauen besonders mochte: schlank, aber nicht mager, gut proportioniert an den Stellen, die man im Bett immer wieder berührte – wie Po und Oberschenkel. Bei Ute schienen sie muskulös und dennoch weiblich. Und ihr Busen . . . Durch die ruhige Bewegung ihrer Atemzüge wurde Kristins Blick immer wieder darauf gelenkt. Genau sehen kann ich ihn ja nicht. Ute versteckt ihn immer geschickt in weiten Blusen oder Jacken. Er scheint üppiger als meiner. Am liebsten würde ich sofort mit den Händen darüberstreichen und spüren, wie die Warzen in meinen Fingern wachsen . . .

Eine Welle des Begehrens durchlief sie, die sie fast erschreckte. Sie sollte sich derartige Gedanken wirklich verkneifen.

Da öffnete Ute die Augen und sah zur Seite. Kristin fuhr innerlich zusammen. So ungeniert, mit dem eindeutigen Ziel, ihre erotischen Vorzüge zu beurteilen, hatte sie die Ärztin bisher noch nicht betrachtet. Sie merkte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Natürlich würde Ute sich denken können, was gerade in ihrem Kopf vorgegangen war.

Auch Ute senkte den Blick. Kristin konnte gerade noch erkennen, dass sie ebenfalls errötete.

Sollte sie etwa auch einen eindeutigen Tagtraum gehabt haben? Etwa von mir? Ich hätte nichts dagegen einzuwenden. Kristin musste innerlich kichern. Dann rief sie sich zur Ordnung, schloss die Augen und gab sich der Stille hin. Nur Utes und ihr eigener Atem waren zu hören.

Sie hatten eine Weile so gesessen, in fast meditativer Ruhe, als Kristin ein leises Schluchzen vernahm. Erschrocken öffnete sie die Augen und wandte den Kopf zu Ute. Die hatte noch immer die Augen geschlossen, und Tränen liefen an ihren Wangen hinunter. Kristin zögerte nur einen winzigen Moment, dann drehte sie sich ganz zu der Frau neben ihr hin, rückte ein Stück näher und umfing ihre Schultern mit den Armen. Halb rechnete sie damit, dass Utes Körper sich versteifen würde. Aber die andere ließ sich fallen und lehnte sich an sie, so dass ihr Kopf auf Kristins Schulter lag.

Sanft begann Kristin an Utes Armen entlangzustreicheln. Obwohl Ute eine Jacke trug, spürte Kristin ein Kribbeln durch ihre Hände den Arm hinauf durch den ganzen Körper wandern, als hätte sie unmittelbar die Haut berührt. Ihr Puls pochte laut in ihrem Kopf. Utes Nähe und ihr zarter Duft ließen ihr schwindlig werden. Sie hoffte, ihre Hände würden nicht außer Kontrolle geraten und auf Wanderschaft gehen. Wie sehr hatte sie sich das hier erträumt – immer öfter in letzter Zeit. Erst gestern Nacht war der Traum so real gewesen, dass Hitze und Erregung sie durchströmt hatten wie selten zuvor. Um ein Haar hatte sie sich selbst berührt, um wieder zur Ruhe zu kommen, es dann aber doch gelassen. Zu frustrierend war die Erinnerung an ihre letzten Versuche, Sex zu haben: Die waren gründlich danebengegangen. Ihre nicht mehr richtig funktionierenden Nervenbahnen hatten die Empfindungen an den entscheidenden Stellen zunichte gemacht.

Sie atmete tief ein und aus, um wieder ins Hier und Jetzt zu kommen und ganz bei Ute und ihrem Schmerz zu sein. Natürlich hätte sie gern gewusst, was passiert war, aber sie fragte nicht. Ute würde es schon erzählen. Irgendwann. Das war es, was ihre wenigen guten Freundinnen zu Hause so an Kristin schätzten: ihre Geduld. Niemals drängte sie jemanden zu etwas. Und so würde sie es auch bei Ute halten.

Allmählich spürte sie, wie sich Utes Körper in ihrer Umarmung entspannte. Die Verkrampfung ließ nach, das Schluchzen verebbte, sie atmete wieder ruhiger. Kristin hielt sie noch einen Moment in der Umarmung, dann ließ sie sie los. Sie strich Ute noch einmal über den Arm und sah sie liebevoll an, um sie ihrer Nähe zu vergewissern. Ihr zu signalisieren, dass sie eine Freundin wäre, wenn Ute es wünschte.

Ute schien die Botschaft zu verstehen, denn sie nickte kaum merklich und schloss kurz die Lider mit den unglaublich langen, dunklen Wimpern. Ein dankbares Lächeln huschte über ihre Züge.

Auf dem Rückweg sprachen sie nicht mehr viel. Mit einer flüchtigen Umarmung, einem warmen Blick und einem leise gehauchten »Danke!« stieg Ute schließlich in ihren Wagen um, um nach Hause zu ihrer Familie zu fahren.

Nachdem Ute am nächsten Tag nach Kristins Akupunkturtermin ohne viele Worte ihr Rad aus deren Auto geholt hatte, sahen sie sich einige Tage nicht. Fast schien es Kristin, Ute ginge ihr aus dem Weg. Als sie dann ihren nächsten Akupunkturtermin hatte, war Ute freundlich wie immer, und Kristin war sich nicht sicher, ob sie nicht wieder einmal überinterpretiert hatte. Allerdings war kein Lächeln in Utes Gesicht zu sehen. Auch ihre Augen schienen ihr Leuchten verloren zu haben.

»Wie geht es dir?«, leitete Ute das Untersuchungsgespräch ein. »Wie haben deine Beine die Anstrengung verkraftet?«

»Erstaunlich gut«, antwortete Kristin. »Meine Muskulatur baut sich ziemlich kontinuierlich wieder auf. Das schreibe ich eurer guten Luft zu.« Sie versuchte ihr entwaffnendstes Lächeln in der Hoffnung, Ute damit zu verleiten, es ihr gleichzutun. Von Utes Lächeln und vor allem von dem hemmungslosen Lachen, das sie zuletzt in der Jausenstation auf dem Gscheid gehört hatte, konnte sie nie genug bekommen.

Und jetzt gelang es ihr tatsächlich, dieses Lächeln hervorzuzaubern. Ute hatte sie aufmerksam angesehen, und auf Kristins scherzhafte Bemerkung hoben sich ihre Mundwinkel verhalten, kaum wahrnehmbar nach oben.

Ehe sie sich in dem Blickkontakt verlieren konnte, setzte Kristin rasch hinzu: »Zu Hause habe ich den Muskelaufbau stark vernachlässigt.«

»Warum eigentlich?«, fragte Ute nach.

»Zuerst habe ich meine Krankheit nicht wahrhaben wollen. Dann habe ich sie einfach ignoriert«, erklärte Kristin. »Aber das ging nicht sehr lange gut, weil meine gehtechnischen Einschränkungen irgendwann so stark geworden sind, dass sie sich nicht mehr ausblenden ließen. Ich habe einfach Nägel mit Köpfen gemacht und meinen Beruf erst einmal auf Eis gelegt. Mit dem Einverständnis meines Chefs, versteht sich.« Sie hatte Ute schon während der Anamnese erzählt, dass sie als Auslandskorrespondentin gearbeitet hatte, vorwiegend im Nahen Osten. Daher wusste Ute auch, dass sie diesen Job jetzt nicht mehr ausüben konnte und sich neu orientieren musste.

»Und wovon lebst du? Oder bist du reich?«, wollte Ute wissen und lächelte jetzt richtig. So gefiel sie Kristin schon wesentlich besser.

»Ich habe tatsächlich einiges auf der hohen Kante«, antwortete sie, »weil ich bisher kaum Gelegenheit hatte, mein Geld auch auszugeben. Schlecht habe ich nicht verdient. Und ich bin auch jetzt nicht beschäftigungslos . . . und kann sogar von überall aus arbeiten.« Ihr Lächeln verrutschte. Auch wenn sie die Idee ihres Karrierewechsels inzwischen akzeptieren und ihr sogar Positives abgewinnen konnte, war das immer noch etwas völlig anderes, als sich an diese neue Wirklichkeit zu gewöhnen.

Utes gerunzelte Stirn verriet, wie es dahinter arbeitete. Offenbar merkte sie, dass mehr hinter Kristins Äußerungen steckte.

Als sie jedoch nichts sagte, gab Kristin zu: »Ehrlich gesagt wollte ich darüber überhaupt nicht sprechen. Vielleicht so viel: Ich schreibe an einem Buch.«

»Du willst also Geheimnisse vor deiner Ärztin haben?« Nun lachte Ute Kristin offen an.

»Meine Ärztin hat auch Geheimnisse vor mir«, konterte Kristin und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen. Das hatte sie gar nicht sagen wollen.

Utes Blick verfinsterte sich augenblicklich. Vor lauter Schreck wurde Kristin eiskalt. Sie hatte Ute keineswegs verletzen wollen. Die Bemerkung war ihr einfach herausgerutscht, weil seit dem Zwischenfall am Hubertussee die Frage in ihr bohrte, was den Tränenausbruch bei ihrer Ärztin bewirkt hatte. Aber sie wollte auf keinen Fall neue Wunden aufreißen – oder alte. Und unter Druck setzen wollte sie sie schon gar nicht. Ute sollte ihr etwas erzählen, wenn sie bereit dazu wäre. Hoffentlich hatte sie diese Bereitschaft mit ihrer unvorsichtigen Äußerung nun nicht ein für allemal zunichte gemacht.

»Es tut mir leid«, sagte sie zerknirscht, trat um den Schreibtisch herum hinter Utes Sessel und begann ihren Nacken zu massieren. Ute schloss die Augen. Kristin spürte, wie sie sich für einen Moment dieser ebenso zärtlichen wie wohltuenden Geste überließ, bevor sie die Hände ihrer Patientin abschüttelte und sich abrupt erhob.

»Das muss es nicht«, erwiderte sie brüsk. »Es ist alles in Ordnung. Gehen wir nach nebenan und fangen mit der Akupunktur an.«

Sie will nicht darüber reden, dachte Kristin. Auch gut. Wortlos folgte sie der Ärztin in das Behandlungszimmer, entkleidete sich und legte sich auf die Liege. Ebenfalls schweigend und mit zusammengepressten Lippen setzte Ute die Nadeln. Kristin schluckte, als sie beobachtete, wie der verbissene Zug sich wieder in ihren Mundwinkeln einnistete.

Nach der letzten Nadel wandte sich die Ärztin zur Tür, als wolle sie grußlos den Raum verlassen. Doch dann drehte sie sich noch einmal um, lächelte gezwungen und sagte: »Du kennst das ja schon. In ungefähr zwanzig Minuten bin ich wieder da. Und wenn was ist, drückst du den Schalter.«

Kristin nickte.

Lautlos öffnete und schloss Ute die Tür und ließ eine nachdenkliche Kristin zurück.

Gut zwanzig Minuten später fragte Ute: »Was hältst du davon, wenn wir morgen Nachmittag einen kleinen Radausflug zur Häuslerin machen?« Sie hatte die Akupunkturnadeln entfernt, und Kristin war dabei, sich anzukleiden. »Sie hat eine Quelle mit erfrischendem Wasser und bietet außerdem leckere Köstlichkeiten an.«

Ute sah Kristin nicht an, während sie sprach, sondern stand mit dem Gesicht zur Wand. Kristin vermutete, dass sie ihr nicht beim Anziehen zusehen wollte. Gerade räumte die Ärztin die Nadelutensilien weg.

So sah sie auch nicht, wie Kristin verblüfft die Stirn runzelte. Erst dieser scheinbare Rückfall in die anfängliche Distanziertheit, und jetzt plötzlich ein weiterer gemeinsamer Ausflug? Aber offenbar bedeutete das, dass Ute ihr die unbedachte Frage von vorhin verziehen und sich an ihrem freundschaftlichen Umgang nichts geändert hatte. Kristin schloss den letzten Knopf an ihrem Hemd und antwortete: »Ich würde mich sehr freuen.«

Ute drehte sich um und lächelte sie endlich wieder an. »Ich hole dich um zwölf im Gasthof ab.« Dann hob sie den Zeigefinger und drohte scherzhaft: »Dass du mir bloß nichts isst vorher.«

Kristin schüttelte lachend den Kopf. Beschwingten Schrittes und mit einem »Bis morgen!« verließ sie das Zimmer.

Am nächsten Tag saß Kristin im Gastgarten vor ihrer Pension, ihr Liegerad abfahrbereit neben sich, und konnte Ute schon von weitem sehen. Sie kam zügig mit ihrem Rad vorgefahren und hielt mit quietschenden Reifen und in einer Sandwolke direkt vor Kristins Stuhl, die demonstrativ hustete.

»’Tschuldigung, so viel Wirbel wollte ich nicht machen.« Die Ärztin grinste. »Bist du bereit?«

»Ich habe gar nicht gefragt, wie weit es ist«, sagte Kristin vorsichtig. Für einen ähnlichen Kraftakt wie beim letzten Mal wäre es definitiv noch zu früh.

Ute schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Wer vom Ahornhof aufs Gscheid kommt, für den ist der Häuslerhof ein Spaziergang. Es ist nur ein paar Kilometer in den Weißenbach hinein und geht nicht sehr steil bergan. Eher moderat, würde ich sagen. Außerdem geht es auf dem Rückweg wieder bergab – das kennst du ja schon.«

»Dann los!« Jetzt war Kristin voller Tatendrang. Sie erhob sich, setzte ihren Helm auf und nahm auf ihrem Rad Platz. »Ich versuch’s erst mal ohne Antrieb. Das kann dann etwas langsamer sein«, erklärte sie.

»Das finde ich gut. Die Geschwindigkeit ist kein Problem.« Ute lächelte auf sie herab.

Kristin grinste zurück. »Wirklich? Ich weiß doch, dass du es etwas spritziger magst.« Das war eine Anspielung auf den Rückweg vom Gscheid herunter. Da hatte Ute die Führung nicht wieder abgeben wollen und auch noch zusätzlich in die Pedale getreten, als sei sie im Geschwindigkeitsrausch gewesen.

»Wenn du dich da mal nicht täuschst.« Ute blieb kryptisch, und ihr Lächeln umwölkte sich.

Sie fuhr an, und Kristin folgte. Nach etwa einer halben Stunde strammen Trampelns deutete Ute voraus: »Da hinten ist er.«

»Die Straße geht ja nicht weiter«, stellte Kristin fest, als sie ihr Ziel erreichten.

»Ja, hier ist das Ende des geteerten Weges. Es gibt noch den ein oder anderen Wanderweg, der von hier aus losgeht.«

Kristins Blick war auf die imposanten Gebäude vor ihnen gerichtet, die ein Dreieck bildeten. Zwei der Fassaden waren weiß gestrichen, während die dritte zur Hälfte mit Holz verkleidet war. Das war wohl die Scheune. Die beiden anderen Häuser verfügten über einen Balkon mit üppigem Blumenschmuck. Orangerot leuchteten die Tagetes in der Sonne. Direkt hinter der Bebauung begann ein dichter Mischwald, von dem durch den leichten Wind in den Blättern ein sanftes Rauschen ausging. Wenn nicht die Sonne geschienen hätte, hätte es unheimlich gewirkt. »Wir sind also quasi am Ende der Welt.«

Ute lachte, und Kristin musste unweigerlich mitlachen. Das hatte sie so lange vermisst.

Sie schlossen ihre Räder ab, und Ute hakte sich ungefragt bei Kristin unter. Kristin hatte tatsächlich die ganze Fahrt über auf ihren Antrieb verzichtet, und ihre Beine waren jetzt wirklich müde. Ob Ute das ahnte? Kristin sah ihr tief in die Augen. Eine kleine Bewegung an Utes Hals verriet ihr, dass deren Puls schnell ging. Kann aber auch vom Radfahren kommen, sagte sich Kristin.

»Danke«, flüsterte sie, ohne genauer auszuführen, worauf sich der Dank bezog.

Ute wies hinter das Haupthaus und sagte: »Von hier aus führt auch ein Weg auf den Gippel, einen unserer Zweitausender. Wenn man Richtung Gipfel geht und einen kleinen Umweg macht, kommt man an unserer Hütte vorbei.«

»Ihr habt eine Hütte da oben?«

»Ja.« Ute lächelte. »Genau genommen gehört sie meinen Eltern, aber die nutzen sie schon seit Jahren nicht mehr.« Das Lächeln wich einem nachdenklichen Ausdruck, als sie weitersprach: »Und Robert und ich waren schon eine Ewigkeit nicht mehr dort. Als die Kinder kleiner waren, sind wir häufiger hinaufgewandert, mal mit, mal ohne Kinder. Ich hätte große Lust, bald wieder eine Nacht dort oben zu verbringen.«

»Dann mach es doch.«

Ute blieb stehen. Weil sie Kristin eingehakt hatte, musste diese ebenfalls stehen bleiben. Sie sah Ute fragend an.

»So einfach ist das nicht«, kommentierte Ute ernst. »Heute muss eine Menge vorher organisiert werden. Und ich hab wenig Lust, allein hinaufzugehen.«

»Dann nimm doch deinen Mann mit«, schlug Kristin vor.

Utes schiefes Lächeln zeigte deutlich, dass ihr Mann nicht ihre bevorzugte Gesellschaft für ein Wochenende in der Hütte war. Kristin fragte sich, ob das Weinen bei ihrem letzten Treffen damit zusammenhing. Kriselte es in Utes Ehe? Überrascht hätte es Kristin nicht angesichts der Tatsache, dass sie Utes Mann bisher nur unfreundlich und grantig erlebt hatte.

Doch Ute sagte nichts dazu, sondern setzte ihren Weg fort. Kristin ließ sich mitziehen.

Das Gasthaus hatte gerade den Mittagsansturm hinter sich. Die Tische im Gastgarten waren alle voller benutztem Geschirr, nur vereinzelt saßen noch Gäste daran. Das passte zu den zahllosen Autos, die ihnen unterwegs entgegengekommen waren. Kristin hörte Ute erleichtert aufatmen, als sei sie froh, hier nicht mehr so viele Menschen anzutreffen.

Das frische Quellwasser stand bereits in einem Krug auf dem Tisch, an dem sie Platz nahmen. Kristin goss Ute und sich selbst ein Glas ein und trank einen großen Schluck. »Das schmeckt ja wirklich vorzüglich«, sagte sie begeistert. »Du hast nicht zu viel versprochen.«

Ute nickte nur, sagte aber immer noch nichts. Irgendetwas brannte ihr auf der Seele, das konnte Kristin sehen.

In diesem Moment brachte die Häuslerbäuerin persönlich die kleine Jause: ein paar Scheiben des selbstgebackenen Brotes, für das der Hof weit über die Grenzen der Gemeinde hinaus bekannt war, Butter und Waldhonig aus eigener Herstellung.

»Griaß euch«, grüßte die Bäuerin freundlich im tiefsten niederösterreichischen Dialekt und stellte die Brotzeit auf dem Tisch ab. »Ute! Wie geht’s dir? Hob di long net gsehn.«

»Guat, danke.« Utes Stimme klang brüchig. »Wann ihr auch nia zum Orzt gehts!« Dann lächelte sie zaghaft.

Die Häuslerin hob entschuldigend die Schultern und ging nach einem »Losst’s euch schmecka!« wieder auf das Gasthaus zu.

Kristin hatte sich schon ein Brot geschmiert und herzhaft hineingebissen. Der einzige Laut, der aus ihrer Richtung kam, war ein genießerisches »Mmmmh.« Sie hatte die Augen geschlossen, um sich dem Geschmackserlebnis vollständig hingeben zu können, ohne Ablenkung. So sah sie nicht, wie Ute sie beobachtete und zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hier wieder ein wenig lächelte.

Ohne die Augen zu öffnen, schwärmte Kristin: »Ich kann förmlich den Wald auf meiner Zunge schmecken, und die fleißigen Bienchen summseln um mich herum. Dieser Honig ist der beste, den ich je gegessen habe.« Dann sah sie Ute an. »Und erst das Brot . . .«

»Sie backen’s täglich frisch in dem kleinen Steinofen da drüben.« Ute wies auf das Gebilde am Hang hin, dessen Zweck Kristin bisher verborgen geblieben war. »Der Sohn der Wirtin hat ihn gebaut, bevor er beim Baumfällen den tödlichen Unfall hatte.«

Kristin hörte auf zu kauen und machte ein bestürztes Gesicht. Solch eine tragische Geschichte passte gar nicht zu diesem idyllischen Plätzchen und dem köstlichen Mahl. Sie schluckte und versuchte einen Themenwechsel: »Das ist ein echter Geheimtipp hier. Danke, dass du mir die Schätze der Gegend zeigst.« Ihr Blick ruhte auf Utes Gesicht, und das Wort Schätze weckte Assoziationen, die nichts mit dem Gasthof oder der Gegend zu tun hatten. Bevor sich diese Gedanken in ihrem Gesichtsausdruck niederschlagen konnten, schloss sie die Augen wieder und biss erneut genüsslich in ihr Honigbrot.

»Ich muss dir was erzählen«, hörte sie Ute sagen. Sie schien all ihren Mut zusammengerafft zu haben.

Sofort öffnete Kristin die Augen. Ute hatte noch gar nichts von der köstlichen Brotzeit angerührt, und ihr Blick war gequält. Mitfühlend reichte Kristin mit einer Hand über den Tisch und streichelte ihr sanft über den Arm. Aber nur ganz kurz, dann zog sie die Hand wieder weg.

Ute hatte den Kopf gehoben und sah sie mit festem Blick an. »Die Tränen am Hubertussee hatten nichts mit dir zu tun.«

»Ich hab sie auch gar nicht auf mich bezogen«, sagte Kristin ehrlich. So gut kannten sie sich schließlich noch gar nicht, als dass Kristin angenommen hätte, Ute würde ihretwegen Tränen vergießen. Und sie hätte auch gar nicht gewusst, warum. Sie war sich sicher, nichts Falsches gesagt zu haben, und konnte sich auch nicht erinnern, Ute irgendwann mit ihrem Verhalten verletzt zu haben.

»Ich wollte es dir erklären«, sagte Ute leise.

»Du bist mir keine Erklärung schuldig.«

»Ich möchte es aber. Ich hatte an dem Morgen einen hässlichen Streit mit meinem Mann.« Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern. Ute hatte Tränen in den Augen, und in ihrem Gesicht malte sich Schmerz, als durchlebe sie die unerfreuliche Szene in ihrer Erinnerung von neuem. »Robert hatte wissen wollen, wo ich nachmittags hinwollte, weil es doch mein freier Nachmittag war. Ich sagte, ich werde einen kleinen Ausflug mit dem Fahrrad unternehmen und später noch eine Jause machen. Robert war erzürnt darüber, dass er ›schon wieder‹ auf die Kinder aufpassen müsse. Als ich sagte, ich brauche etwas Zeit für mich, ist er ausgerastet wie schon häufiger in letzter Zeit.«

Der Schreck verschlug Kristin den Atem. »Hat er dich geschlagen?«

Ute antwortete nicht sofort, aber die Tränen rannen ihr jetzt über die Wangen. Als sie das Entsetzen in Kristins Gesicht sah, erzählte sie tonlos: »Ich konnte dem Schlag ausweichen. Habe sofort meine Sachen gepackt und bin ohne ein weiteres Wort in die Praxis gefahren, um dort etwas Abstand zu bekommen.«

Ihr schmerzverzerrter Blick traf Kristin mitten ins Herz. Voller Mitleid streichelte sie Ute die Tränen von der Wange.

»Abends habe ich mich im Gästezimmer eingeschlossen«, fuhr Ute fort, »und bin erst wieder hervorgekrochen, als ich Roberts Auto wegfahren hörte. Die Nacht habe ich trotzdem im Gästezimmer verbracht, weil ich Robert auf keinen Fall noch einmal an diesem Abend begegnen wollte. Aber das Ehebett war am nächsten Morgen unbenutzt. Er hat also nicht zu Hause geschlafen.«

Als sie schwieg, langte Kristin erneut mit einem Arm über den Tisch, nahm Utes Hand und streichelte ihr vorsichtig über den Handrücken. Ute sah sie mit feuchten Augen und einem schiefen Lächeln an und wehrte sich nicht, als Kristin ihre Hand diesmal nicht wieder zurückzog, sondern weiterstreichelte. Die Berührung ließ eine Gänsehaut über ihren Arm kriechen, das konnte Kristin sehen. Aber sie schien sich ein wenig zu beruhigen und sogar zu entspannen.

Schließlich entzog sie Kristin ihre Hand, putzte sich die Nase und sagte: »Wir haben uns inzwischen wieder vertragen.« Ganz überzeugend klang das nicht. Zumal die Tränen noch immer nicht versiegt waren.

Kristin sagte nichts, sondern sah sie nur an und legte all ihre Anteilnahme, ihre Zärtlichkeit und ihre tiefempfundene Zuneigung in ihren Blick.

3

Nachdem es am Dienstag regnerisch gewesen war und Kristin ihr Rad lieber in der dafür vorgesehenen Garage des Gasthofs hatte stehen lassen, stellte der Mittwoch sich als ein herrlich klarer und sonniger Frühlingstag heraus. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft war sie nun mit dem Rad unterwegs. Fürs Erste sollte der Nachbarort als Ziel genügen. Das waren hin und zurück etwas über zehn Kilometer, und die Hälfte davon ging ordentlich bergauf. Sie hatte sich vorgenommen, es zunächst ohne Antrieb zu versuchen – das wäre genug Anstrengung für den Vormittag. Als Belohnung würde die Rückfahrt fast ausschließlich bergab gehen.

Nach dem anstrengenden Hinweg legte sie im Gastgarten eines kleinen Gasthauses im Nachbarort eine Pause ein, damit die Beine sich für den Rückweg erholen konnten. Genießerisch hielt sie das Gesicht in die warme Frühlingssonne. Ein quietschendes Geräusch vom ortsansässigen Sägewerk durchbrach die Stille, und ein angenehmer Geruch von frisch geschnittenem Holz stieg ihr in die Nase. Die perfekte Atmosphäre zur Entspannung.

Nicht immer hatte sie bisher in ihrem Leben einen Rhythmus gefunden, der ihren Körper nicht überforderte. Das war einer der Punkte, an dem sie hier an ihrem Rückzugsort arbeiten wollte: die Balance finden zwischen An- und Entspannung.

Ein anderer, sehr viel umfassenderer Punkt bestand darin, ihr Leben neu zu ordnen. Seit der Diagnose Encephalomyelitis disseminata, umgangssprachlich Multiple Sklerose, hatte sie zunächst noch einige Zeit gearbeitet und ihre Erkrankung einfach ignoriert in der Hoffnung, so weitermachen zu können wie bisher. Aber inzwischen war die Krankheit so weit fortgeschritten, dass an ihre Arbeit als Kriegsberichterstatterin nicht mehr zu denken war. Sie würde sich also beruflich neu orientieren müssen. Die Auszeit hier war eine gute Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen.

Und sie müsste endlich mit ihrem Privatleben ins Reine kommen. Sie wusste, dass sie alles andere als glücklich war, aber auch das hatte sie in den letzten Jahren zu ignorieren versucht. Ein zufriedenes, ja vielleicht sogar glückliches Leben zu führen – wie sollte das gehen? Dafür müsste sie ein anderer Mensch sein, oder? Und sie konnte nun mal nicht aus ihrer Haut.

Aber das war das Letzte, worüber sie heute nachdenken wollte. Dafür war noch Zeit genug. Jetzt wollte sie einfach diesen herrlichen Tag genießen und die wunderbar klare Luft in sich aufsaugen wie ein Schwamm, der vollkommen ausgetrocknet war.

Sie hatte gerade ihre Bestellung aufgegeben und streckte gemütlich die Beine aus, als sie ihre neue Ärztin lächelnd auf sie zukommen sah. Ihr Herz legte einen kleinen Galoppsprung ein, als sie das Lächeln erwiderte.

»Grüß Gott!«, sagte Ute Würzburger fröhlich, als sie den Tisch erreicht hatte. Die Haare trug sie heute nicht in einem Pferdeschwanz gebändigt, und Lachfältchen tanzten um ihre Augen. Dass auch die Augen lächelten, war neu, fiel Kristin auf. Bisher hatte die Ärztin trotz ihrer unverhohlenen Freundlichkeit eher einen verbissenen Eindruck gemacht. Nein, verbissen wäre vielleicht das falsche Wort. Müde passte besser. Und streng. Unnahbar irgendwie. Aber eigentlich konnte sie sich darüber gar kein Urteil erlauben, sie kannte sie ja erst ein paar Tage. Und Kennen ist sowieso schon zu viel gesagt.

»Grüß Gott«, antwortete sie. »Was treibt Sie in Ihrer Mittagspause hierher?«

»Darf ich?«, fragte Frau Dr. Würzburger und deutete auf den Stuhl neben Kristin.

»Aber selbstverständlich.«

Die Ärztin setzte sich, stellte ihre Tasche neben sich auf den Boden und erklärte: »Ich habe gerade einen Hausbesuch gemacht und habe mir jetzt einen Kaffee« – sie betonte das Wort auf der zweiten Silbe, wie es bei den Österreichern üblich war – »verdient. Aber Sie sind offenbar auch gerade erst gekommen, denn ich sehe noch keine Bestellung.« Sie sah Kristin fragend an.

»Lang bin ich noch nicht da. Aber bestellt habe ich schon.«

In diesem Moment trat die Kellnerin an den Tisch und servierte die Apfelschorle. Kristin musste grinsen: Die Bestellprozedur hatte etwas länger gedauert, denn eine »Apfelschorle« war hier niemandem ein Begriff.

»Servus, Ute!«, begrüßte die Kellnerin die Ärztin. Natürlich kannte man sich hier.

»Servus, Tina.«

»Warst beim alten Brandner?«

»Ja«, lautete die knappe Antwort. »Bringst mir an kleinen Braunen?«

»Kommt sofort!«

»Danke.« Die Ärztin schlug ihre Beine übereinander, die in einer hellen Jeans steckten.

»Ich finde es immer wieder spannend, wie viele Kaffeesorten ihr Österreicher anbietet«, sagte Kristin fasziniert. »Wenn ich Kaffeetrinkerin wäre, würde ich das Land wahrscheinlich nie wieder verlassen. Es riecht außerdem immer überall so köstlich nach Kaffee.«

»Sie trinken keinen Kaffee?« Wieder lag die Betonung auf der zweiten Silbe.

»Nein, ich trinke ausschließlich Tee. Überall, wo ich länger bleibe, bringe ich meine eigenen Teeblätter mit. Jeden Morgen fülle ich ein Beutelchen aus meinem Vorrat ab und nehme ihn zum Frühstück mit. Diesen Luxus gönne ich mir.«

»Aber jetzt trinken Sie keinen Tee«, bemerkte Frau Dr. Würzburger und deutete auf die Apfelschorle.