Olaf Baale

Abbau Ost

Lügen, Vorurteile und sozialistische Schulden

 

 

 

Originalausgabe
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
© 2008 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
eBook ISBN 978-3-423-40059-6 (epub)

www.dtv.de

Inhaltsübersicht

Zwanzig Jahre danach. Ein Prolog in fünf Kapiteln

Mangel und Überfluss

Ehemalige DDR-Bürger

Mars Attacks!

Sozialisationstheorien

Letzte Nachricht von einem verlorenen Volk

Teil eins. Herrenloses Eigentum

Wendebestandsaufnahme

Geheime Verschlusssache b5 – 1158/89

Die postindustrielle Konsumgesellschaft

»Schicksalsschwere Stunden«

Westgeld

Das solidarische Opfer

Der Wert des Geldes

Neuanfang mit alten Schulden

Herr Schmidt aus Bernkastel-Kues

Der Präzedenzfall

Insichverbindlichkeiten einer geschlossenen Staatsverwaltungswirtschaft

Rangrücktrittserklärung auf Besserungsschein

Der Running Gag

Rückgabe vor Entschädigung

Wie sie stehen und liegen

Investitionen in die Vergangenheit

Der Küstenwald

Die Wahrung des Volksvermögens

Ein Vorgriff auf künftige Privatisierungserlöse

Anteilsscheine

Die Partei hat immer recht

Die Stille nach dem Schuss

Das geblümte Sofa

Die Ermessensfrage

Warten auf den Investor

Schulnoten für die ostdeutsche Wirtschaft

Ablasshandel in Wittenberg

Die kritische Teilungsmasse

Zero Reset

Die Braut möge sich schmücken

Parteienbündnis gegen die Wahrheit

Die abschließende Erfüllung der verbliebenen Aufgaben

Abschluss mit offenem Endzeitpunkt

Ein Rückblick auf dreizehn erfolgreiche Jahre

Richard Schröder verschrottet sein Volksvermögen

Altenheim und Tiefgarage

Die Treuhand als Winkelried

Clusterförderung

Mit leichtem Gepäck

Kulturfaktor Frau

Transferleistungen

Drei Engel für Deutschland

Die ehemalige DDR

Die ostdeutsche Tragödie

Teil zwei. Der große Verwaltungsakt

Wilde Kreaturen

Große Erwartungen

Die Entdeckung der Bürokratie

Hochsinnige Bürokraten

Aschersleben

Aufbauhilfe

Das Netzwerk

Der Letzte zahlt die Zeche

Fünf neue Nehmerländer

Das Schlimmste kommt noch

Die neue politische Klasse

Lernpatenschaften

Kämpfen um jedes Mitglied

Die späte Vereinigung

Endlich Demokratie!

Was bedeutet eigentlich Demokratie?

Leben wir in einer Demokratie?

Der breite linke und der schmale rechte Rand

Das Sozio-oekonomische Panel

Die verlorene Generation

Der kleine Mann

Frauen lieben Machos

Anspruch und Wirklichkeit

Stiftung Vereinigungsunrecht

Teil drei. Eine kurze Geschichte vom Ende der DDR

Die Häber-Protokolle

Forschung für den Tag X

Interzonenhandel

Unser Mann in Seoul

Das Züricher Modell

Der Vogel Strauß

Wandel durch Annäherung

Der talentierte Michail Sergejewitsch Gorbatschow

Waffenbrüder

Ökonomische Betrachtungen zu Mauer und Stacheldraht

Staat und Revolution

Die Opposition

Das erste Gebot

Der Berufsoppositionelle

Der Herbst des Patriarchen

UnbeKrenzte Demokratie

Die Asche unseres Parteivorsitzenden

Bewegte Bilder

Eine Meldung und ihre Geschichte

Der omnipotente Dr. Kohl

Kleines Büfett bei Helmut und Hannelore

Der kohlsche Umtauschkurs

Die letzten Volkskammerwahlen

Die wahnsinnig gewordenen Deutschen

Meckel hat nicht verstanden

Das Laienspielhaus

Vertrag ohne Partner

Günther Krause für die Deutsche Demokratische Republik

Kleine Lügen unter Feinden

Deutsche Irrtümer

Personenregister

Dieses Buch ist den ehemaligen Bürgern der DDR gewidmet.

ZWANZIG JAHRE DANACH

Ein Prolog in fünf Kapiteln

Mangel und Überfluss

Hans-Werner Sinn ist der Direktor des in München ansässigen ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, eines von bundesweit sechs führenden, ganz ähnlich strukturierten Forschungseinrichtungen. Sein Thema sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland. Das ifo-Institut trägt Wirtschaftsdaten zusammen und zeigt Entwicklungen auf, wobei es in erster Linie dem Direktor vorbehalten bleibt, die vielen Details analytischer Arbeit zusammenzufügen und daraus Änderungsvorschläge abzuleiten, die dann im günstigsten Fall von den politischen Entscheidungsträgern aufgegriffen und umgesetzt werden. Deutschland hat derzeit ungeheuerlichen Änderungsbedarf, im Grunde wissen die Verantwortlichen gar nicht, wo sie zuerst anfangen sollen. All jene, die sich noch gestern am Erfolgsmodell Deutschland wärmten, haben kalte Füße bekommen. Einige der Probleme sind so grundsätzlicher Natur, dass die Politiker davor kapitulieren. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland frustrieren zahllose Unternehmer, erschweren oder verhindern Unternehmensgründungen und zwingen Jahr für Jahr viele Tausende zur Aufgabe ihres Geschäfts. Selbst in Zeiten des konjunkturellen Aufschwungs profitieren viele Unternehmen nicht so, wie dies die weltwirtschaftliche Lage erwarten ließe. Der deutsche Fiskus bürdet Unternehmen und Arbeitnehmern immer größere Lasten auf, die Einkommensentwicklung hält mit anderen Industrienationen nicht mehr Schritt. Und am Ende eines weltweiten Nachfrageschubs gibt es ein noch böseres Erwachen.

Früher war das einmal anders. Wer das Wirtschaftswunder erlebt hat oder es aus den Erzählungen der Eltern kennt, dem fällt ein Bruch auf, der irgendwie zeitlich mit der deutschen Einigung zusammenfällt. Tatsächlich scheint im wiedervereinigten Deutschland kaum noch etwas so zu sein, wie es in der alten Bundesrepublik einmal war. Hans-Werner Sinn nutzte das zehnjährige Einigungsjubiläum zu einer prinzipiellen Analyse und sicherte sich, was die Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung auf dem früheren Territorium der DDR betraf, die Meinungsführerschaft. Im Oktober 2000 veröffentlichte der Institutsdirektor seinen »Kommentar zur Lage der neuen Länder«, der die Beziehungen zwischen beiden Teilen Deutschlands und die öffentliche Wahrnehmung des Beitrittsgebiets nachhaltig verändern sollte. Anfangs erschien die Arbeit nur in englischer Sprache, eine an das westliche Europa gerichtete Rechtfertigung für die in Deutschland verloren gegangene Wirtschaftsdynamik. Erst nachdem der Erklärungsversuch anderen Industrienationen plausibel erschien, war es an der Zeit, auch dem deutschen Publikum eine »überarbeitete und veränderte Übersetzung« vorzulegen. Als erster rührte Hans-Werner Sinn damit an jene Wunden, von denen viele meinten, sie würden schon irgendwie verheilen, wenn nur genügend Zeit ins Land ginge. Aber da heilte nichts. »Die Vereinigung ist ökonomisch misslungen«, hieß es gleich zu Beginn des Aufsatzes. »Der Anpassungsprozess der ostdeutschen Wirtschaft ist bei einer Leistungskraft von etwa 60 Prozent zu einem vorläufigen Stillstand gekommen, und immer noch kommt jede dritte Mark, die im Osten ausgegeben wird, aus den alten Bundesländern.« Auf 13 eng beschriebenen Seiten dokumentierte der Artikel ein krasses Missverhältnis zwischen der Arbeitsleistung und dem Konsumverhalten der Ostdeutschen. »Der zu sozialistischen Zeiten äußerst geringe Lebensstandard hat sich fast an westliche Verhältnisse angepasst.« Nach den Berechnungen des ifo-Instituts verfügt der ostdeutsche Haushalt wegen geringerer Warenpreise und Mieten im Durchschnitt »über mindestens 90 Prozent des westdeutschen Nettoeinkommens«. Bei der Rente übertrifft der Osten nach den Münchener Analysen sogar den westlichen Standard. »Bemerkenswert ist, dass das Renteneinkommen eines durchschnittlichen ostdeutschen Rentenbeziehers höher als das eines westdeutschen Rentenbeziehers ist.« Danach erreichten die Rentenzahlungen in den neuen Ländern »real sogar 120 Prozent der westlichen Durchschnittsrente«. Und das, obwohl die Ostrenten nach Auffassung des ifo-Instituts im Westen erarbeitet werden, denn »es darf nicht übersehen werden, dass die finanziellen Mittel, die den Ostdeutschen zur Verfügung stehen, die eigene Leistung bei weitem übertreffen«.

Die Ursachen dieser Fehlentwicklung lagen für Hans-Werner Sinn »im Fördergebietsgesetz, in der Holländischen Krankheit und im Mezzogiorno-Problem«. Das Fördergebietsgesetz hätte zur massenhaften Fehlleitung von Investitionen und zu der heute im Beitrittsgebiet allerorten sichtbaren Vernichtung von Kapital geführt. Die Abschreibungsvergünstigungen, die eigentlich Investitionsanreize schaffen sollten, fielen so üppig aus, dass echte ökonomische Erträge eine eher untergeordnete Rolle spielten und sich Investitionen allein schon durch Steuervergünstigungen auszahlten. Für zahlreiche neu erbaute Büros und Wohngebäude fanden sich keine Mieter. Hans-Werner Sinn sprach von »einem bedauerlichen Politikfehler, der den politischen Entscheidungsträgern nicht hätte unterlaufen dürfen«.

Die Holländische Krankheit (Dutch disease) geht zurück auf die holländischen Gasfunde, nach denen die kleine Nation ihre Wirtschaftskraft auf die Erschließung der Fundstätten konzentrierte. In der Folge wurde das verarbeitende Gewerbe stark vernachlässigt, Industrieexporte wurden durch Erdgasexporte verdrängt. »Zwar haben die fünf neuen Länder keinen Überfluss an natürlichen Rohstoffen«, doch »spielt es nämlich keine Rolle, ob die Zahlungen, die eine Region erhält, ein Geschenk der Natur oder ein Geschenk aus einer anderen Region sind«. Mit anderen Worten, die Ostdeutschen beuteten den üppig sprudelnden Quell westdeutscher Transferleistungen aus wie die Holländer seinerzeit ihre Erdgasvorkommen. Als Therapie für die Holländische Krankheit empfahl Hans-Werner Sinn »eine Senkung der West-Ost-Sozialtransfers«.

Doch die wichtigste Ursache für mangelnde Wirtschaftserfolge im Osten schien Hans-Werner Sinn das Mezzogiorno-Problem zu sein. Dieses Gleichnis bemüht die Wirtschaftsschwäche Süditaliens. Vom Schaft an abwärts bis zur Sohle, heißt es in der Studie, leide der Stiefel an den Folgen kollektiver Lohnverhandlungen. Die mächtigen Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen des Nordens hätten das Lohnniveau für ganz Italien festgelegt, wodurch die Unternehmen im Süden ihren wichtigsten Standortvorteil verloren, nämlich billige Arbeitskräfte. Arbeitslosigkeit und Stagnation seien die Folgen gewesen, die jetzt durch Sozialtransfers vom Norden in den Süden abgemildert werden müssten. Die Parallelen zwischen dem Osten und Westen Deutschlands waren für Hans-Werner Sinn offensichtlich, denn »die westdeutschen Konkurrenten bestimmten die Arbeitsbedingungen und die Löhne im Osten«. Gegen das Mezzogiorno-Problem empfahl der Wissenschaftler »Lohnmäßigung« und eine »aktivierende Sozialhilfe«, bei der Erwerbstätige Sozialleistungen vom Staat nur noch als Zuschüsse zu Billigjobs erhalten sollten. Aktivierend insofern, dass Arbeit, wie schlecht bezahlt auch immer, die Voraussetzung für die Zahlung von Sozialhilfe wäre.

Mit seinem »Kommentar zur Lage der neuen Länder« hatte Hans-Werner Sinn eine Duftmarke gesetzt, an deren Aura sich Deutschland erst gewöhnen musste. Selbst Wissenschaftler rümpften anfangs die Nase. Zwar hatte es auch vorher kritische Betrachtungen zum Einigungsprozess und zur wirtschaftlichen Entwicklung gegeben, aber nie zuvor hatte ein Beamter aus der sozialen Hängematte des Staates derart unverblümt über wirtschaftsliberales Gedankengut sinniert. Hans-Werner Sinn leugnete über weite Strecken seines Aufsatzes nicht nur, dass der Westen das Dilemma in den neuen Ländern erst verursacht hatte, er betrachtete sie auch als losgelöstes, eigenständiges Territorium, zog sozusagen noch einmal die innerdeutsche Grenze und machte, in seiner isolierten Betrachtungsweise, die ehemalige DDR für die anhaltende Wirtschaftsschwäche der Bundesrepublik verantwortlich.

Anfangs sprang kaum jemand auf diese Diskussionsplattform. Im Oktober 2000 gab es noch Hoffnungen, Deutschland könne sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Tatsächlich dauerte es nach der Veröffentlichung des Aufsatzes noch mehr als drei Jahre, ehe die Stimmung umschlug und die Thesen des Münchener Institutsdirektors in aller Munde waren. Und dann schließlich, im Frühjahr 2004, entluden sich die lange aufgestauten Ressentiments. Der deutsche Osten, das Versuchsterrain einer misslungenen Integration, wurde abgeschrieben. Plötzlich forderte der westliche vom östlichen Landesteil mehr Eigenständigkeit, als die Bundesrepublik Deutschland der Deutschen Demokratischen Republik selbst in vier Jahrzehnten Teilung zubilligen mochte. Was man bei Hans-Werner Sinn noch zwischen den Zeilen lesen musste, sprach der Hamburger Pensionär Klaus von Dohnanyi zu Beginn des Jahres 2004 öffentlich aus und erntete dafür im Westen der Republik tosenden Beifall. Die Sachverständigen hatten gerade wieder die Wachstumsprognosen nach unten korrigieren müssen, und es sah endgültig so aus, als könne der einstige Klassenprimus Deutschland nie wieder an seine alten Leistungen anknüpfen. Klaus von Dohnanyi lokalisierte die Gründe für den deutschen Leistungsabfall im Osten der Republik und sprach damit aus, wovon die meisten im alten Bundesgebiet lebenden Menschen ohnehin längst überzeugt waren. »Der ungebrochene innerdeutsche West-Ost-Transfer und andere Folgen der deutschen Vereinigung sind zu etwa zwei Dritteln für die heutige Wachstumsschwäche Deutschlands ursächlich.« Klaus von Dohnanyi war ein intimer Kenner des ostdeutschen Problems, als einer der führenden Treuhandberater hatte er tatkräftig daran mitgewirkt. Aber jetzt, da »die neuen Länder nach 1989 weitgehend entindustrialisiert wurden«, wollte es von Dohnanyi denen nicht so leicht machen, »die meinen, die alte Bundesrepublik setze heute nur einen Abstieg fort, der längst vor der Vereinigung eingesetzt habe«, denn »schließlich debattieren wir über Bevölkerungsentwicklung bis hin zu Renten und Arbeitslosigkeit nun schon 30 Jahre«. Seine Überlegungen gipfelten in der Forderung, die Transferzahlungen schnellstens zu verringern, sonst »lähmt der Osten den Westen immer mehr, und dieser verliert schließlich die hohe Wettbewerbsfähigkeit, die er heute noch hat«.

Folgerichtig nahm sich im Frühjahr 2004 auch das Nachrichtenmagazin ›Der Spiegel‹ des Themas an. Die Titelseite zeigte einen Baum, umschlungen von einem schwarzrotgoldenen Band, der von zwei Herren in Businessanzügen mit Gießkannen begossen wurde. Dennoch war die Krone vertrocknet. Über dem schwarzrotgoldenen Band stand: »1250 Milliarden Euro«, darunter: »Wofür?«, und zu Füßen der beiden Manager: »Wie aus dem Aufbau Ost der Absturz West wurde«. Im eigentlichen Text wurden die ›Spiegel‹-Autoren noch deutlicher. »Der Osten ist ein Landstrich mit weitgehend stillgelegter Wertschöpfung, der ohne ständigen Nachschub aus der westdeutschen Volkswirtschaft nicht lebensfähig wäre – zumindest nicht auf dem Niveau eines entwickelten Industrielandes. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf nach Abzug der Netto-Transferleistungen der Ex-DDR liegt unter dem Niveau von Portugal. Selbst viele der Beschäftigten in der Ex-DDR, offiziell sechs Millionen, sind keine Beschäftigten im produktiven Sinne. Das Kapital ihres Arbeitsplatzes und oft auch das Geld für ihren Lohn wurden zuvor größtenteils im Westen verdient.« Mittlerweile addierten sich die Transferleistungen, »die durch die Kassenhydraulik des deutschen Sozialstaats Richtung Osten gepumpt werden, zu einer Billionenbilanz. So werden jährlich rund 90 Milliarden Euro aus dem produktiven Kern der westdeutschen Volkswirtschaft entnommen – um im Osten weitgehend wirkungslos zu verglühen.« Die ›Spiegel‹-Autoren recherchierten haarsträubende Beispiele, wie die Transfergelder, »die der Westen längst aus der eigenen Substanz begleichen muss«, sinnlos verpulvert wurden. »Die Aufbau-Ost-Milliarden sorgen bei Besuchern aus dem Westen immer wieder für Aufsehen: Am Strand des Badeortes Kühlungsborn tragen heute alle Toilettenhäuschen ein Reetdach. In Dresden wandeln Kunden der Bahn über granitbelegte Bahnsteige. In Cottbus gibt es eine beheizte Bahnhofshalle.«

Kein Zweifel, bei den ›Spiegel‹-Autoren, bei Klaus von Dohnanyi und bei Hans-Werner Sinn überwog die Enttäuschung, wobei ›Der Spiegel‹ noch eine ganz persönliche Kränkung zu verwinden hatte, denn im Osten der Republik erreichte »DIE NR.1« nie einen nennenswerten Leserkreis. All die journalistischen Recherchen und wissenschaftlichen Analysen zeigten eine tief sitzende Sehnsucht nach der alten Bundesrepublik. Aus westlicher Sicht war der deutsche Einigungsprozess ein kaum vorstellbares Verlustgeschäft. Nach einer beispiellosen Zerstörung von nahezu allem, was sich im deutschen Osten in viereinhalb Jahrzehnten Teilung an Eigenständigem herausbilden konnte und nach dem nur in Teilen geglückten wirtschaftlichen Neuanfang, begann nun das Jahrzehnt der Schuldzuweisungen und der Schadensbegrenzung. »Wo«, fragte die ostdeutsche CDU-Politikerin Angela Merkel besorgt, »waren die Menschen in den neuen Bundesländern?« Was dachten die Nutznießer dieses unvorstellbaren Geldsegens, jene, wie es ›Der Spiegel‹ ausdrückte, »47 Prozent aller Erwachsenen in Ostdeutschland, die ihren Lebensunterhalt überwiegend aus Sozialtransfers bestreiten«? Hatten möglicherweise sie ein gutes Geschäft gemacht?

Ehemalige DDR-Bürger

Die heutige Lage in der ehemaligen DDR ist in der Tat vollkommen anders als bei uns 1945. Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist über weite Strecken völlig unbrauchbar. Wir können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nützen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Markwirtschaft einbringen könnten.

 

Arnulf Baring, Historiker und Publizist, in ›Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf Jobst Siedler‹, Berlin 1991

Noch gibt es neun Millionen ehemalige DDR-Bürger. Sie sind die Letzten eines kleinen Volkes mitten in Europa. Es sind Menschen, die im zweiten deutschen Staat geboren und aufgewachsen sind oder den größten Teil ihres Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik verbracht haben. Die jüngsten ehemaligen DDR-Bürger waren 1989, als sich ihr Staat auflöste, zumindest 18 Jahre alt. In den entscheidenden Phasen ihrer Sozialisation standen sie unter dem Einfluss eines, wie es im wiedervereinigten Deutschland heißt, realsozialistischen Herrschaftssystems. Äußerlich sind sie von anderen Deutschen nicht zu unterscheiden, und doch handelt es sich um einen außergewöhnlichen Menschenschlag. Ehemalige DDR-Bürger besitzen allein aufgrund ihrer Geburt und historischer Umstände, die sie nicht beeinflussen konnten, eine Identität, die sie aus der Masse deutscher Staatsbürger heraushebt und die sie, selbst wenn sie es wollten, nur schwer ablegen können. Sogar jene, die ihre angestammte Heimat verlassen haben und heute in westlichen Bundesländern oder im Ausland leben, verbindet ein reißfester Faden mit ihrer Vergangenheit. Sie ziehen, ob sie dies nun wollen oder nicht, immer wieder persönlich Bilanz und vergleichen ihr früheres mit dem heutigen Leben. Ihr Vergleichsmaßstab ist die DDR. Auch wenn die Erinnerungen mit den Jahren etwas verblassen, so treten Details, wenn es die Umstände nahelegen, wieder klar und deutlich hervor. Vielen erscheint es wie ein Fluch, sie distanzieren sich von ihrer Herkunft, sie verschließen die Augen und legen einen Grand Canyon zwischen sich und ihre Vergangenheit. Sie treiben die Assimilation im vereinigten Deutschland bis zur Selbstverleugnung. Andere bekennen sich zu ihrer Prägung und gewinnen zunehmend Gelassenheit. Allen gemeinsam ist, dass sie diese ostdeutsche Identität niemals gewollt haben, sie ist ihnen erst nach der Wiedervereinigung zugewachsen. Eigentlich wollten sie schon lange ganz normale Bundesbürger sein, doch die meisten sind es nie wirklich geworden und möchten es inzwischen auch gar nicht mehr werden. Der ›Sozialreport 2004‹ des Sozialwissenschaftlichen Forschungszentrums Berlin-Brandenburg e. V. liefert »Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern« und fragt nach den Hintergründen dieser Entwicklung. Zwar wird die Wiedervereinigung von den Ostdeutschen »insgesamt positiv bewertet«, auch gebe es, »von Einzelpersonen abgesehen, keine restaurativen Vorstellungen«, dennoch fühlen sich gerade mal 38 Prozent der ehemaligen DDR-Bürger mit Deutschland stark oder ziemlich stark verbunden. Auf der anderen Seite gibt es bei fast drei Vierteln der Befragten ein starkes Gefühl der Verbundenheit mit Ostdeutschland, dem früheren Territorium der DDR. Bei der Frage nach der »Selbstzuordnung und Identifikation mit dem bundesrepublikanischen System« fühlt sich überhaupt nur jeder Fünfte als »richtiger Bundesbürger«. Die jeweilige »Selbstzuordnung« steht in engem Zusammenhang mit dem sozialen Status und der Einkommenssituation. Bei den hohen Einkommen überwiegt »BRD-Orientierung«. Über ein Drittel derer, »die angeben, sich als richtige Bundesbürger zu fühlen«, sind Beamte. Dagegen ist eine »starke DDR-Orientierung« besonders bei den unteren Einkommen anzutreffen. Jeder Zehnte möchte die DDR wiederhaben. Zum großen Teil sind es Langzeitarbeitslose, die sich nach den alten Verhältnissen zurücksehnen. Doch die größte Gruppe ehemaliger DDR-Bürger, beinahe zwei Drittel der Befragten, möchte weder die DDR wiederhaben noch fühlen sich diese Menschen als richtige Bundesbürger. Ihre Situation ist menschheitsgeschichtlich ohne Beispiel. Dieser seltsame Grenzzustand, den alten Staat verloren, zum neuen aber keinen rechten Zugang gefunden zu haben, erinnert an das Lebensgefühl von Aussiedlern. Doch die meisten ehemaligen DDR-Bürger haben ihre Heimat niemals verlassen, sie leben immer noch innerhalb ihrer früheren Staatsgrenzen, oft in denselben Dörfern und Städten, in denselben Häusern und Wohnungen. Sie sind Ausländer im eigenen Land.

Mars Attacks!

Ich denke, dass während der DDR-Zeit tatsächlich so eine zarte Bitternis in alles reinspielte, auch in das Schöne. Das wurde nur scheinbar ausgetrieben durch den Radau des quietschbunten Betriebes, der nach der Wende über uns kam. Allerdings wäre es fatal, wenn man vergessen würde, dass es in der DDR neben dieser Tristesse auch eine wild aufschäumende Vitalität gab. Unter den repressiven Rahmenbedingungen brodelte das Leben.

 

Neo Rauch, im Interview mit dem ›Spiegel‹, Nr. 38 / 2006

Wird die frühe Kindheit einmal ausgeklammert, so wächst die Zahl ehemaliger DDR-Bürger, die mittlerweile länger unter den Einflüssen des wiedervereinigten Deutschland leben als unter denen der DDR. Die stärkeren Eindrücke, weil existenziell bedrohlich, haben die allermeisten ohnehin in der Bundesrepublik gesammelt. Zu den prägenden Erfahrungen ehemaliger DDR-Bürger zählen weniger die Wendeeuphorie und die Währungsumstellung, als vielmehr die schnell einsetzende Ernüchterung. Ein ganzes, bereits in Auflösung begriffenes Volk litt plötzlich unter einem eklatanten Mangel an Gelassenheit. Die Frustration gipfelte in der späten Erkenntnis, dass sie damals alles Mögliche mit der gerade gewonnenen Freiheit anfangen konnten, der Zugang zu den westlichen Märkten stand ihnen auch ohne die übereilte Preisgabe ihres Gemeinwesens offen. Doch zu diesem Zeitpunkt standen sie bereits im Visier einer generalstabsmäßigen Übernahme. Eine fremde Zivilisation hatte sich in Stellung gebracht und errichtete auf ostdeutschem Boden ihr gewohntes Lebensumfeld. Wenn sich irgendwo etwas Ostdeutsches regte, wurde aus allen Rohren gefeuert. Existenzangst wurde zum bestimmenden Lebensgefühl.

Zwei Generationen sahen sich mit dem Niedergang von nahezu allem konfrontiert, woran sie geglaubt und wofür sie gearbeitet hatten. Ob etwas Sinn machte oder nicht, ob sich Strukturen bewährt hatten oder nicht, ob Vorhandenes weit kostengünstiger war als vermeintlich Neues, das war vollkommen egal. Ehemalige DDR-Bürger spielten »Alte Bundesrepublik Deutschland«, und das untertänigst, in ständiger Angst um den Arbeitsplatz. Die Stimmung sank unter den Gefrierpunkt. Noch heute gilt »ostdeutsch« als Makel und genügt für eine pauschale Ablehnung. Ein heute weltweit gefragter Künstler wie der in Leipzig lebende Maler Neo Rauch wurde im wiedervereinigten Deutschland geschnitten. Erst internationale Anerkennung verhalf ihm zu Aufmerksamkeit im eigenen Land, wobei weniger sein außergewöhnlicher Stil und seine Kunstfertigkeit thematisiert werden als vielmehr die bemerkenswerten Verkaufserlöse, die seine Bilder im Ausland erzielen. Nur wenige ehemalige DDR-Bürger hatten so ein Glück. Andere haben hart gearbeitet, waren wirklich gut in ihrem Beruf und haben dennoch nie einen Fuß auf den Boden bekommen. Meistens war es reine Glückssache, wer beruflich und finanziell vom Wandel profitierte. Im Nachhinein erscheint es geradezu grotesk, dass ausgerechnet die Staatsbediensteten einen guten Schnitt machten, während die Beschäftigten der gewerblichen Wirtschaft mit Massenentlassungen zu kämpfen hatten. Vergleichsweise gut kamen Rentner weg, sowohl jene, die bereits zum Zeitpunkt des Wandels im Ruhestand waren, als auch jene, die das Rentenalter im ersten Nachwendejahrzehnt erreichten oder sich durch die anfangs noch großzügigen Ruhestandsregelungen vor Arbeitslosigkeit und prekären Beschäftigungsverhältnissen retten konnten. Und schließlich gab es jene Begnadeten, die beiden deutschen Gesellschaftsentwürfen das Beste abgewinnen konnten und das Leben in der DDR nicht weniger genossen haben als das im wiedervereinigten Deutschland. Und doch haben sie alle, ganz gleich ob erfolgreich und gescheitert, zufrieden oder unzufrieden, ob arbeitslos oder beruflich arriviert, ein ambivalentes Verhältnis zum deutschen Staat. Ehemalige DDR-Bürger möchten die Wendezeit nicht missen, bedauern aber, dass sie die gerade gewonnene Freiheit so schnell wieder aufgegeben haben. Sie beklagen den Zerfall der Gesellschaft und ziehen sich ins Private zurück. Sie verachten den deutschen Beamtenstaat und profitieren zugleich vom öffentlichen Jobwunder. Sie beobachten den Niedergang der westdeutschen Wirtschaft mit einer gewissen Häme und wünschen zugleich, die Regierung möge die Probleme endlich anpacken und in den Griff bekommen. Sie spüren, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann, und leben doch, als könne es noch ewig dauern.

Ehemalige DDR-Bürger sind die Meister in der Kunst des Verdrängens. In den zurückliegenden Jahren wurde ihnen zu viel zugemutet. Viele haben unter der ständigen Anspannung zu wenig auf sich selbst und auf ihre Familie geachtet. Einige sind krank geworden, viele Beziehungen sind zerbrochen. Erst seit einigen Jahren ist so etwas wie eine Besinnung zu spüren, ein Bekenntnis zu vertrauten Werten. Es werden Klassentreffen organisiert, man interessiert sich wieder dafür, was aus den anderen geworden ist, man knüpft an schon verloren geglaubte Freundschaften an und holt die alten Schwarzweißfotos aus dem Schrank.

Sozialisationstheorien

Schon seit dem Fall der Mauer erforschen westdeutsche Sozialwissenschaftler »die Differenzen in den gesellschaftspolitischen Einstellungen und Wertorientierungen von Ost- und Westdeutschen«. Im Laufe der Jahre haben sich drei Theorien über die Wertvorstellungen ehemaliger DDR-Bürger herausgebildet, die in Forscherkreisen eine unterschiedliche Wertschätzung genießen. Das begann, unmittelbar nach Auflösung des zweiten deutschen Staates, mit der Konservierungshypothese, nach der sich in der DDR-Bevölkerung westliche Wertvorstellungen aus den 50er Jahren konserviert hätten. Befragungen zeigten bei ehemaligen DDR-Bürgern eine strikte Leistungsorientierung und eine starke Ausrichtung an materiellen Werten. Das wurde keinesfalls negativ bewertet, sondern vielmehr freudig aufgenommen. Diese 50er-Jahre-Mentalität hatte in Westdeutschland das Wirtschaftswunder ermöglicht.

Mit dem Fortschreiten des Einigungsprozesses mehrten sich Zweifel an der Konservierungshypothese. Es passte nicht ins Bild, dass ehemalige DDR-Bürger das Leistungsprinzip befürworteten, sich aber andererseits sehr unduldsam gegenüber sozialen Unterschieden zeigten. Ostdeutsche bevorzugten das Gesellschaftsmodell des demokratischen Sozialismus, in dem soziale Gerechtigkeit und eine direkte Bürgerbeteiligung zentrale Rollen spielten, während Altbundesbürger eher einem liberalen Demokratiemodell zuneigten, in dem soziale Gerechtigkeit und direkte Bürgerbeteiligung nicht die Bedeutung erlangten wie in dem von ehemaligen DDR-Bürgern favorisierten Demokratiemodell. In marktwirtschaftlichen Verhältnissen, forderten die Ostdeutschen, müsse soziale Gerechtigkeit notfalls durch den Staat garantiert werden. Im Westen sozialisierte Wissenschaftler hielten sie deshalb für Heuchler. Wer das Leistungsprinzip wolle, so die westliche Sichtweise, müsse sich auch mit sozialen Ungerechtigkeiten abfinden. Für die ehemaligen DDR-Bürger aber bedeutete, und darin lag das deutsch-deutsche Missverständnis, soziale Gerechtigkeit vor allem Chancengleichheit. Für sie erforderte das Leistungsprinzip einen sportlichen Maßstab, nämlich gleiche Startbedingungen. Die heute in vielen Studien bewiesene Tatsache, dass über den Werdegang eines Bundesbürgers nicht seine Leistungen, sondern vor allem seine soziale Herkunft entscheidet, war die prägende Sozialisationserfahrung für Millionen ehemaliger DDR-Bürger im wiedervereinigten Deutschland. Dazu, wie sie zu sozialen Ungleichheiten stehen, die tatsächlich aufgrund von Leistungen, also unter gleichen Startbedingungen erworben werden, hat die Ostdeutschen bislang nie ein Soziologe befragt.

Dennoch war dieses Missverständnis die Geburtsstunde der Sozialisationstheorie. Die mangelnde Integrationsfähigkeit der Ostdeutschen wurde aus ihrer DDR-typischen Sozialisation erklärt, dort erworbene Wertorientierungen würden sich auch im vereinigten Deutschland als außerordentlich beständig erweisen. Die offizielle politische Zielkultur des SED-Regimes habe den DDR-Bürgern eigentümliche Orientierungen vermittelt, in denen sich Werte wie Wirtschaftswachstum, Leistungsprinzip und Aufstiegsorientierung mit einer dazu im Widerspruch stehenden egalitären Gesellschaft verbinden würden. Diese Wertvorstellungen ließen sich auch heute noch bei ehemaligen DDR-Bürgern nachweisen, weshalb daraus auf erfolgreiche Sozialisationsbemühungen des SED-Regimes geschlossen werden müsse.

Bis heute ist die Sozialisationshypothese die bestimmende Betrachtungsweise in wissenschaftlichen Publikationen. Gäbe es noch eine weitere, ostdeutsche Sichtweise, so würde sie sicher besagen, dass sich Ost- und Westdeutsche in ihren Wertvorstellungen nur wenig unterscheiden, wohl aber in ihren Erfahrungen mit zwei deutschen Gesellschaftsentwürfen und den Möglichkeiten ihrer Teilhabe im wiedervereinigten Deutschland. Neuere Forschungen untermalen dieses Bild. Untersuchungen der Verwaltungshochschule Speyer, bei denen Bürger nach ihren Orientierungen befragt und fünf sogenannten speyerischen Wertetypen zugeordnet wurden (vorrangig traditionell orientierte Menschen, Idealisten, hedonistisch und materiell Orientierte, aktive Realisten und perspektivlos Resignierte), hat sich gezeigt, dass es unter ehemaligen DDR-Bürgern einen besonders hohen Anteil aktiver Realisten gibt. Dieser Wertetyp gilt als der zukunftsfähigste überhaupt. »Aktive Realisten«, schreibt der Speyerer Soziologieprofessor Helmut Klages in seinem 2001 erschienenen Aufsatz ›Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten?‹, »sind auf eine konstruktiv-kritikfähige und flexible Weise institutionenorientiert und haben verhältnismäßig wenig Schwierigkeiten, sich in einer vom schnellen Wandel geprägten Gesellschaft zielbewusst und mit hoher Selbstsicherheit zu bewegen. Mit allen diesen Eigenschaften nähern sie sich am ehesten dem Sollprofil menschlicher Handlungsfähigkeiten unter den Bedingungen moderner Gesellschaften an.« Eine derartige, marktwirtschaftliche Verhältnisse bejahende Wertorientierung erfordert eine geringe Frustrationsanfälligkeit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen. Die vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Technischen Universität Dresden im Jahr 2003 veröffentlichte Vergleichsstudie ›Seelische Gesundheit in Ost und West‹ stellt ehemaligen DDR-Bürgern auch in dieser Hinsicht gute Noten aus. »Entgegen früherer Befunde«, heißt es dort zusammenfassend, »treten psychische Störungen im Gebiet der früheren DDR seltener auf als in Westdeutschland. Auf einer individuellen Ebene, auf der sich letztlich psychische Störungen manifestieren, wirken Einwohner der neuen Bundesländer eher robuster.« Auch wenn der Osten inzwischen aufgeholt hat, spielen Drogen im neuen Bundesgebiet immer noch eine geringere Rolle, wobei Alkohol eine Ausnahme bildet. Die Autoren Frank Jacobi, Jürgen Hoyer und Hans-Ulrich Wittchen rätseln in der Studie, dass »Alkoholstörungen trotz höherer Raten gesundheitsschädlichen Konsums im Osten seltener sind«, und vermuten, »ob vielleicht geselliges Trinken verbreiteter, einsames (funktionales) Trinken aber seltener ist. Eine Erklärung zugunsten der neuen Bundesländer, dass Konkurrenz, Neid und die Neigung zum sozialen Vergleich für den Osten vielleicht doch weniger charakteristisch sind.«

Nicht alle Zumutungen konnten ehemalige DDR-Bürger durch »geselliges Trinken« kompensieren. Kaum zu verkraften waren die Aussagen von Kai Arzheimer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz, und von Markus Klein, Volkswirt und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentralarchiv für empirische Sozialforschung an der Universität Köln. In ihrem viel beachteten Aufsatz ›Gesellschaftspolitische Wertorientierungen und Staatszielvorstellungen im Ost-West-Vergleich‹ warnen sie, »dass das politische System zunehmend unter Stress geraten wird, sollten sich die politischen Orientierungen in Ost und West nicht mittelfristig einander angleichen.« Beide Autoren sind erklärte Anhänger der Sozialisationshypothese, nach der »die Wertorientierungen der Bürger in den neuen Ländern in einem spezifisch ostdeutschen Sozialisationsprozess erworben wurden und sich dementsprechend als relativ stabil erweisen«. Die beiden Wissenschaftler sorgen sich, »dass nachwachsende Generationen wiederum spezifisch ostdeutsche Wertorientierungen erwerben und auf diese Weise ein geschlossenes Milieu entstehen könnte«. Dann müsste die politische Kultur in Deutschland noch über Jahrzehnte gespalten bleiben, zumal »unsere Ergebnisse darauf hindeuten, dass bei der demokratischen Sozialisation der jungen Ostdeutschen mit einer niedrigen formalen Bildung erhebliche Defizite bestehen«. Doch es gibt auch Hoffnung. »Insbesondere ist über alle untersuchten Wertorientierungen hinweg unter den formal hochgebildeten Angehörigen der jüngsten Generation eine fast vollständige Annäherung zwischen Ost und West zu verzeichnen. Wenn sich der Trend in den nächsten Jahren fortsetzt«, heißt es bei Arzheimer und Klein zusammenfassend, »wird sich eine gesamtdeutsche politische Kultur nur langsam, nämlich über die Generationenfolge herausbilden.«

Noch gibt es neun Millionen ehemalige DDR-Bürger. Es werden schnell weniger. Im Jahr 2020 werden es gerade noch 5,6 Millionen sein, um 2039 werden sich die letzten ehemaligen DDR-Bürger aus dem Erwerbsleben verabschieden, und 2063 sind die wenigen dann noch lebenden, in der DDR sozialisierten Bundesbürger bereits über 90 Jahre alt. Ihr allmähliches Verschwinden ist die allgemein erwartete und von Wissenschaftlern propagierte Lösung der gesellschaftspolitischen Differenzen zwischen beiden Teilen Deutschlands.

Letzte Nachricht von einem verlorenen Volk

Die Weltkonjunktur gegen Ende des zweiten Nachwendejahrzehnts hat Ostdeutschland nie richtig erreicht. Der Westen profitierte, frühere Ostblockstaaten erstarkten wirtschaftlich und setzten, nach Jahren großer Anstrengungen, auf mehr Lebensqualität, nur Ostdeutschland hatte keine Perspektive. Aber die Medien verbreiteten gute Stimmung und die Menschen ließen sich nur zu gern anstecken, zu groß war ihre Sehnsucht nach ein bisschen Normalität. Es floss noch einmal reichlich Geld in die öffentlichen Kassen des Beitrittsgebiets. Doch das Ende war bereits abzusehen, der Westen hatte den Solidarpakt aufgekündigt. Jahr für Jahr sollte es weniger zusätzliches Geld geben, bis schließlich gar nichts mehr im Osten ankäme, weder innerdeutsche Solidarzahlungen noch aus Brüssel überwiesene Sonderförderung. Am schwersten aber wog, dass Ostdeutschland an der Schwelle zum »demografischen Wandel« stand und sich ein Bevölkerungsrückgang abzeichnete, wie es ihn seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr in Mitteleuropa gegeben hat. Nun, da fast eine Generation seit der deutschen Einigung vergangen war, wurde deutlich, das ein Generationswechsel nicht stattfinden würde, nur wenige rücken nach. Die neue Generation ist zahlenmäßig weit kleiner als zu DDR-Zeiten geborene Jahrgänge, und sie ist anders. Ihre Sozialisation ist westdeutsch, ihre Orientierung ist westlich, die Suche nach beruflichen Chancen führt ein Großteil fort aus Ostdeutschland. Die Eltern und Großeltern schauen ihnen nach und hoffen, dass sie die Kinder hin und wieder besuchen. Kaum jemand glaubt ernsthaft daran, dass sie wieder zurückkommen. Ihr Fortgang besiegelt das letzte Kapitel der deutschen Einigung. Die Eltern und Großeltern bleiben zurück in einer Region, wo prekäre Arbeitsverhältnisse nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind und ein langer Arbeitsmonat nicht viel mehr einbringt als das staatlich garantierte Existenzminimum. Sie bleiben zurück in einem Landstrich, wo die Hälfte aller Erwerbsfähigen auf staatliche Wohlfahrt angewiesen ist, wo jeder Zweite fürchtet, im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Es ist eine Region, in der bereits 43 Prozent Rentner leben, wo sich vier von zehn Menschen zum »abgehängten Prekariat« zählen und mit ausgesprochen heiklen Lebensverhältnissen zurechtkommen müssen (Sozialstudie TNS Infratest vom April 2007). Es ist ein Landstrich, wo mehr als ein Drittel der Unternehmen von Pflichtbeiträgen für die Industrie und Handelskammer freigestellt sind, wo – wie in Mecklenburg-Vorpommern – 851 Kommunen gerade mal 270 Millionen Euro Gewerbesteuereinnahmen für sich verbuchen (Stand 2006) und damit nur einen Bruchteil ihrer Verwaltungskosten begleichen können. Es sind Städte und Gemeinden, wo besonders viele junge Frauen abwandern und ein Männerüberschuss herrscht. Es sind Problemgegenden darunter, wo sich bereits unter Grundschülern eine bisher nicht gekannte Aggressivität ausbreitet, wo schon die Jüngsten von Hunger und Verwahrlosung geprägt sind und kaum jemals die Chance auf ein bürgerliches Leben haben.

Niemand weiß, wo das noch hinführt. Die gravierendsten Auswirkungen der deutschen Einigung werden erst in den kommenden Jahren sichtbar und in der gesamten westlichen Welt auf Interesse stoßen. Die Zwangsläufigkeit der bevorstehenden Ereignisse macht Ostdeutschland zu einem Studienobjekt. Wenn die heutige Generation der Großeltern ihre letzte Ruhe findet, wird es kaum noch jemanden geben, der in die frei werdenden Mietwohnungen und Einfamilienhäuser zieht. Räumkommandos werden den Abriss ganzer Dörfer, Stadtteile und Wohnsiedlungen organisieren, um Vandalismus vorzubeugen. Mit dem Ableben der zahlenmäßig starken, vergleichsweise finanzkräftigen Rentnergeneration werden nach und nach viele der Einkaufszentren schließen, die in den 90er Jahren in größter Eile aus dem Boden gestampft wurden. Die Immobilienpreise werden noch drastischer fallen, Banken und Sparkassen mit den Wertberichtigungen kaum noch nachkommen. Immer mehr Kommunen werden Investitionskredite für die viel zu groß geratenen Wasserwerke und Kläranlagen, für leer stehende Gewerbegebiete und Verwaltungsgebäude nicht mehr bedienen können und nicht wissen, woher sie das Geld für die Bezahlung des öffentlichen Personals nehmen sollen. Spätestens dann wird sichtbar, was heute kaum jemand auszusprechen wagt: Die Bundesrepublik hat unter dem Banner der deutschen Einigung eine 108 000 Quadratkilometer große Problemregion mitten in Europa geschaffen und Millionen voller Vertrauen und Enthusiasmus in die Vereinigung gestartete Menschen betrogen und ihrer Existenzgrundlage beraubt.

Das Schlimmste ließe sich womöglich verhindern, wenn sich Deutschland sofort den Problemen stellen würde. Doch das neue Bundesgebiet wird im föderalen Verteilungskampf kaum noch wahrgenommen, schließlich steht auch der Westen vor eklatanten Problemen. Ihre schwerste Bewährungsprobe haben die ehemaligen DDR-Bürger noch vor sich. Unter rein ökonomischen Gesichtspunkten wäre es sinnvoll, die Regierung würde den ehemaligen DDR-Bürgern den Umzug in westdeutsche Bundesländer bezahlen und die ostdeutschen Verwaltungsgebiete – abgesehen von einigen Wirtschaftsstandorten – der Natur überlassen. Am Ende gibt es für alles eine Lösung. Wer kann schon genau sagen, wo Deutschland in zwanzig Jahren stehen und wie es dann im Osten aussehen wird. Das ist der Zeitpunkt, wo die letzten ehemaligen DDR-Bürger aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Was werden ihre Enkel und Urenkel über sie denken? Welches geschichtliche Verständnis wird kommenden Generationen über ehemalige DDR-Bürger und ihren untergegangenen Staat vermittelt? Werden im Westen sozialisierte Historiker dieses Bild entwerfen oder werden auch jene gehört, die nicht nur eine, sondern beide Seiten kennen, die Erfahrungen in beiden deutschen Gesellschaftsentwürfen sammeln konnten? Vieles deutet darauf hin, dass sich die einseitige, vom Westen dominierte Sichtweise fortsetzen wird. Das wiedervereinigte Deutschland hat nur wenig Nutzen aus dem viereinhalb Jahrzehnte währenden ost-westdeutschen Gesellschaftsexperiment gezogen. Der Westen ist völlig uninspiriert in die Wiedervereinigung gegangen. Mit Blick auf die beängstigenden Tatsachen müssen es – um in der Wortwahl der Soziologen zu bleiben – überwiegend materiell und hedonistisch orientierte Altbundesbürger gewesen sein, die sich den Osten angeeignet haben. Aufgrund ihrer stabilen, im Westen erworbenen Wertvorstellungen fehlte ihnen jegliches Feingefühl für die in mehr als vier Jahrzehnten erworbenen Besonderheiten und Vorzüge der im Osten lebenden Menschen. Sie meinten, sie seien auf die aktive Mitwirkung der ehemaligen DDR-Bürger nicht angewiesen.

 

Besitzt jemand nur so viel Vermögen, dass er davon nicht länger als ein paar Tage oder Wochen leben kann, denkt er wohl kaum daran, Einkünfte daraus zu erzielen. Er geht äußerst sparsam damit um und versucht durch seine Arbeit so viel zu verdienen, dass er Entnahmen ersetzen kann, bevor es vollständig aufgezehrt ist.

 

Adam Smith, ›Der Wohlstand der Nationen‹, London 1776

TEIL EINS

Herrenloses Eigentum