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Der Arzt vom Tegernsee
– 29 –

Deine Stimme in der Dunkelheit

Laura Martens

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-939-6

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Michaela Sanwald fuhr durch Rottach-Egern. Ab und zu warf sie einen Blick in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, ob ihr der Möbelwagen mit ihren Sachen auch folgte. Dabei war sie sicher, daß der Fahrer des Wagens genau wußte, wohin er fahren mußte.

Die junge Frau konnte es kaum noch erwarten, ihre neue Wohnung zu beziehen. Bisher hatte sie in einem winzigen Appartement in Kreuth gelebt, einer kleinen Gemeinde oberhalb von Rottach-Egern. Von Anfang an hatte es für sie festgestanden, daß es sich dabei nur um einen Notbehelf handelte. Vor einem Jahr, als sie als Werbegrafikerin bei der Werbeagentur Vögele angefangen hatte, war es für sie unmöglich gewesen, eine geeignete Wohnung zu finden.

Michaela bog in Richtung Wallberg ab und fuhr geradeaus weiter zur Salzerstraße. Kurz darauf hielt sie vor einem weißen, zweistöckigen Haus, in dessen Untergeschoß sich eine Reinigung befand.

Die junge Frau hatte kaum am Straßenrand gehalten, als ihre Vermieterin auch bereits aus der Reinigung kam. Carla Mathes atmete etwas schwer, da sie Asthma hatte und der heiße Tag ihr zu schaffen machte. »Willkommen, herzlich willkommen, Frau Sanwald«, sagte sie und ergriff Michaelas Hände. »Ich freue mich so, daß Sie bei uns einziehen.«

»Bestimmt nicht mehr als ich, Frau Mathes«, meinte Michaela. Carla war ihr vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen. Sie war überzeugt, daß sie gut miteinander auskommen würden, auch wenn ihre Vermieterin etwa fünfundvierzig sein mußte und somit rund zwanzig Jahre älter als sie.

»Ah, da kommt ja auch schon der Möbelwagen.« Carla trat vom Straßenrand zurück, obwohl nicht die geringste Gefahr bestand, daß der Möbelwagen sie streifen konnte. »Am besten, wir gehen gleich hinauf.« Sie nahm die Wohnungsschlüssel aus ihrer Schürzentasche und überreichte sie der jungen Frau. »Es ist jetzt Ihre Wohnung, also dürfen Sie aufschließen.«

Gemeinsam mit dem Fahrer des Möbelwagens stiegen sie die Treppen zum Dachgeschoß hinauf. Michaela öffnete die Wohnungstür. Da die Räume erst vor zwei Wochen renoviert worden waren, roch es noch nach Leim, Farbe und neuen Tapeten. Gleichzeitig duftete es jedoch auch nach Geranien und Rosen.

»Ich dachte, daß Sie sich über ein paar Blumen freuen würden«, sagte Carla. »Die Rosen sind aus meinem eigenen Garten.«

Michaela trat mit ihr auf den Balkon hinaus, an dessen Gitter Kästen mit üppig blühenden Geranien hingen. Sie beschattete die Augen mit der Hand und schaute über die Häuser hinweg zum Tegernsee. Die Sonne stand bereits so hoch am Himmel, daß das Wasser selbst aus der Ferne mit einem Netz von bunten Edelsteinen überzogen zu sein schien.

»Schade, daß mein Mann nicht da ist, sonst könnte er beim Herauftragen Ihrer Sachen helfen«, meinte Carla. »Frank arbeitet für eine Spedition und ist oft tagelang unterwegs. Aber heute abend kommt er nach Hause.« Sie atmete tief ein, dann trat sie durch die Balkontür in die Wohnung. »Ich muß in die Reinigung hinunter.«

»Danke für alles, Frau Mathes«, sagte Michaela. »Ich fühle mich bereits jetzt daheim.«

»So soll es auch sein, Frau Sanwald«, erklärte Carla herzlich, nickte ihr zu und ging zur Treppe.

Die Träger waren noch dabei, die einzelnen Möbelstücke nach oben zu bringen und dort aufzustellen, wo die neue Mieterin sie haben wollte, als ein weiterer Wagen vor dem Haus hielt. Arno Vögele stieg aus, öffnete die Fondtür und nahm einen mittelgroßen Philodendron heraus, dann wandte er sich der Haustür zu und folgte einfach einem der Möbelträger, der mit einem Karton die Treppen hinaufstieg.

Michaela räumte den Kühlschrank ein. Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich. »Die Küchenkartons stellen Sie bitte zwischen Tisch und Anrichte«, bat sie, ohne sich umzuwenden.

»Und was mache ich mit einem Philodendron?« fragte Arno.

Die junge Frau fuhr herum. »Arno!« rief sie überrascht aus. »Was machst du denn hier?«

»Nun, ich wollte dir eine Kleinigkeit zum Einzug bringen«, antwortete der Chef der Werbeagentur. »Der Philodendron fühlt sich bei dir bestimmt wohler als in meiner Wohnung. Ich habe mir sagen lassen, daß so eine Pflanze eine fürsorgliche Hand und Zuspruch braucht, um richtig zu gedeihen.« Er stellte den Topf ab. »Leider habe ich ihn ziemlich vernachlässigt. Selbst das Gießen hat meine Putzfrau übernommen.«

»Man sollte dich wegen Pflanzenquälerei anzeigen«, meinte die junge Frau belustigt. Sie berührte behutsam eines der Blätter. »Er ist wunderschön, Arno, herzlichen Dank.« Scherzend wandte sie sich an den Philodendron: »Sei froh, daß du jetzt nicht mehr in Arnos verräucherter Wohnung stehen mußt.«

»Ich habe vor drei Wochen das Rauchen aufgegeben«, beschwerte sich Arno Vögele. »Anstatt mich für meine Ausdauer zu loben, ernte ich überall nur Spott. Dabei ist es erst mein fünfter Anlauf, mit diesem Laster ein für allemal Schluß zu machen.«

»Bist du sicher, daß es dein letzter sein wird?«

»Ein Mann, ein Wort.« Er straffte die Schultern und streckte das Kinn vor.

»Ein Mann und tausend Worte«, meinte Michaela lachend. Sie trat einen Schritt zurück und bewunderte den Übertopf der Pflanze. Er war sicher nicht billig gewesen und, wie es aussah, nagelneu. »Komm mit ins Wohnzimmer. Mal sehen, wo wir meinen neuen Mitbewohner hinstellen.«

Sie fanden einen geeigneten Platz, wo es der Philodendron weder zu sonnig noch zu schattig hatte. Noch während sie den Topf in die richtige Position rückten, fragte Arno, ob er sie zum Abendessen einladen dürfte.

»Sei mir nicht böse, ich habe zuviel zu tun«, erwiderte sie. »So ein Umzugstag ist ziemlich anstrengend.«

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, erklärte er. »Ich habe damit gerechnet, daß du ablehnen würdest. Nun, wir sehen uns am Montag. Bis dahin wird deine Wohnung perfekt eingerichtet sein, so daß du dich auf deine Arbeit konzentrieren kannst.«

»Wenn du mich nicht ablenkst.« Michaela wußte schon seit Wochen, daß Arno Vögele sehr viel für sie übrig hatte, doch auch wenn sie ihn mochte, er hatte keine Aussicht, für sie jemals mehr als ein guter Freund zu sein. Sie hoffte, daß er das akzeptieren würde.

»Ich werde mir Mühe geben«, versprach er. »Kommst du noch mit nach unten?«

»Gern.« Michaela trat beiseite, um zwei Möbelpacker vorbeizulassen, die eine Glasvitrine durch die Tür trugen, dann ging sie Arno voraus.

Michaelas Chef war kaum abgefahren, als Carla Mathes wieder aus ihrer Reinigung kam. »Was für ein netter, junger Mann«, bemerkte sie und schaute Arnos Sportwagen nach. »Ein Freund?«

»Nein, mein Chef«, antwortete ihre neue Mieterin. »Er hat mir einen Philodendron gebracht.«

»Bei mir gibt es heute abend Bohneneintopf. Hätten Sie Lust, mit uns zu essen?« fragte Carla. »Mein Mann wird sich bestimmt freuen, Sie kennenzulernen. Frank hat vorhin von unterwegs angerufen und gesagt, daß er gegen halb sieben hier sein wird.«

»Gern«, hörte sich die junge Frau zu ihrer eigenen Überraschung sagen. Carla Mathes schien ihr zwar reichlich neugierig zu sein, doch das konnte sie ihr nicht verdenken. Ihr lag viel an einem guten Verhältnis zwischen sich und ihren Vermietern.

Michaela war pünktlich, nicht jedoch Frank Mathes. Die beiden Frauen setzten sich auf die Terrasse und unterhielten sich etwas. Carla erzählte von einer Familie, die vor drei Monaten in die Salzerstraße gezogen war.

»Nette Leute, Sie werden sie bestimmt mögen«, sagte sie. »Florian Mergenthaler ist in Rottach-Egern aufgewachsen. Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Unsere Eltern sind locker miteinander befreundet gewesen. Kurz nach seiner Heirat ist er nach München gezogen, weil er dort eine Bankfiliale übernehmen konnte. Jetzt arbeitet er als Kreditsachbearbeiter in Tegernsee.« Ihre Augen bekamen einen verträumten Glanz. »Nebenbei schreibt er Gedichte«, fuhr sie fort. »Das heißt, er hat es früher getan, ob es heute noch so ist, weiß ich nicht.«

»Sieht aus, als hätte er Ihnen einmal sehr viel bedeutet.«

»Ja, das kann man wohl sagen.« Carla seufzte leise auf. »Wie das Leben so spielt, er hat stets nur Augen für seine jetzige Frau gehabt.«

»Leben seine Eltern noch in Rottach-Egern?« fragte Michaela, um sie abzulenken. Sie fühlte, daß Carla noch immer sehr viel für diesen Florian Mergenthaler übrig zu haben schien.

»Sein Vater ist vor zwei Jahren gestorben. Das Haus gehört jetzt seiner Mutter und ihm gemeinsam.« Carla lachte. »Olga Mergenthaler ist eine ziemlich energische Frau. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie und ihre Schwiegertochter gut miteinander auskommen werden.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Wo Frank nur bleibt? Nun ja, ich meine, wir sollten mit dem Abendessen beginnen.«

Sie saßen gerade in der Küche beim Essen, als Frank Mathes nach Hause kam. Scheppernd schlug die Wohnungstür gegen die Flurgarderobe, dann sagte eine mahnende Stimme: »Sei leise, Frank. Carla mag es nicht, wenn du so laut bist.«

Carla atmete tief durch. Sie legte ihren Löffel beiseite. »Sieht aus, als hätte mein Mann etwas zuviel getrunken«, meinte sie betont gleichgültig und wollte aufstehen, um Frank auf direktem Weg ins Schlafzimmer zu bringen, nur war es bereits zu spät. Der Kraftfahrer trat in die Küche. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.

»Hallo, miteinander«, lallte er. »Sieht aus, als hätten wir Besuch.« Mit vorgeschobenem Bauch lehnte er sich an die Anrichte.

»Unsere neue Mieterin«, stellte Carla verlegen vor. »Ich bringe dich ins Schlafzimmer.« Sie faßte nach dem Arm ihres Mannes.

»Nicht nötig, ich finde den Weg schon allein«, meinte Frank. Er stieß seine Frau beiseite und streckte Michaela die Hand entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Mich auch, Herr Mathes.« Michaela war aufgestanden. Sie merkte, wieviel Mühe es den Mann kostete, klar und deutlich zu sprechen.

»Komm, Frank.« Carla griff erneut nach dem Arm ihres Mannes. Diesmal ließ er sich widerstandslos abführen.

Michaela beeilte sich, daß sie in ihre Wohnung kam. Sie überlegte, ob Frank Mathes öfters einen über den Durst trank. Vorstellen konnte sie es sich nicht, immerhin arbeitete er als Kraftfahrer. Arme Carla, dachte sie. Es war nicht einfach, mit einem Mann zu leben, der beim Trinken das rechte Maß verlor.

Sie beschloß, noch ein paar Umzugskartons auszupacken und die Sachen gleich einzuräumen. Weit kam sie jedoch nicht damit, denn ihre Vermieterin klingelte an der Wohnungstür. Schon auf den ersten Blick erkannte die junge Frau, daß es ihr nicht sonderlich gut ging. Auf Carlas Stirn standen kleine Schweißtröpfchen, wenngleich es sich gegen Abend abgekühlt hatte, zudem keuchte und röchelte sie bei jedem Atemzug.

»Ich möchte mich für meinen Mann entschuldigen.« Carla preßte eine Hand zwischen Hals und Brust. »Frank trinkt leider etwas zuviel. Er…« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, daß Sie jetzt denken, er würde während der Arbeit trinken. Am Steuer rührt er keinen Tropfen an. Er hat mir gestanden, daß er schon um vier von seiner Tour zurückgewesen ist und seitdem in seiner Stammkneipe gesessen hat.« Sie griff in ihre Rocktasche und zog ein Inhaliergerät heraus. »Ich habe seit meiner Kindheit Asthma«, erklärte sie, nachdem sie das Spray benutzt hatte.

»Es ist nicht nötig, daß Sie sich für Ihren Mann entschuldigen, Frau Mathes«, meinte Michaela. »Bitte, bleiben Sie ganz ruhig. Ich weiß, daß Asthma schlimmer wird, wenn man sich aufregt, und Sie wollen doch keinen Anfall riskieren.« Sie lächelte ihr ermutigend zu. »Mein Onkel hat auch getrunken. Ich werde nie vergessen, wie entsetzlich das für meine Tante gewesen ist.«

»Ich wünschte, Frank würde sich zu einer Entziehungskur durchringen«, sagte Carlo. »Doktor Baumann hat schon mehrmals deswegen mit ihm gesprochen. So eine Kur hat ja nur Sinn, wenn man sich ihr freiwillig unterzieht. Leider ist Frank der Meinung, von sich aus jederzeit mit dem Trinken aufhören zu können.«

»Wie mein Onkel.« Die junge Frau umfaßte die Hand ihrer Vermieterin. »Ich bin übrigens auch bei Doktor Baumann in Behandlung. Mein Herz ist nicht ganz in Ordnung. Schon als Kind habe ich damit zutun gehabt.«

»Finden Sie ihn auch so nett wie ich?«

»Ja.« Michaela nickte. »Er ist der erste Arzt, zu dem ich wirklich Vertrauen habe.«