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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7822-1275-5

eISBN 978-3-7822-1426-1

Koehlers Verlagsgesellschaft, Hamburg

© 2017 by Koehler im Maximilian Verlag GmbH & Co. KG

Alle Rechte vorbehalten.

Titelgestaltung: Anita Böning

Layout: Fred Uhde

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin

 

Inhalt

Vorwort

Die Nutzer

  1. Die Kinder: Wir spielen da, wo die Steckdosen sind

  2. Die Jugendlichen: Ständig verbunden, aber nicht mehr zusammen

  3. Die Erwachsenen: Nicht ohne mein Handy!

  4.Liebe in Zeiten des Internets – Der Partner als Produkt

  5. Die Familien: Jeder für sich in seiner eigenen Welt

Die Auswirkungen

  6. Digitale Abhängigkeiten und Süchte

Smartphonesucht

Computerpielsucht

Chatsucht

Onlinesexsucht

  7. Konzentrationsstörungen und Abgelenktheit

  8. Auswirkungen auf das Denken und das Sozialverhalten

  9. Identitätsprobleme

10. Veränderte Kommunikationsstandards – Die neue Sprachlosigkeit

11. Kontrollsucht oder Selbstoptimierung?

12. Ausufernder Narzissmus – Die Selfie-Manie und das Ich im Netz

Die Gesellschaft

13. Eine kurze Geschichte der Digitalen Revolution

14. Datenklau und Kontrolle

15. Wachsende Ungleichheit

Zukunftsperspektiven

16. Smart Home – Das vernetzte Zuhause

17. Virtuelle Realität

Conclusio

Fußnoten

Literatur

 

Abwesend

Ich sehe Euch alle sitzen und stehen

In U-Bahnen, Bussen, Straßenbahnen, Kneipen, Grünanlagen

Auf Straßen gehend, abwesend

Immer den Blick aufs Handy gerichtet

Tippend, wischend, streichend

Seid Ihr vertieft

Den Blick konzentriert und starr auf das Display starrend

Überall und ständig

Vernetzt

Mit Kopfhörern isoliert

Alleine mit der Maschine

Ihr verschmelzt mit ihr

Das kleine Ding wird zu Eurem verlängerten Ich

Ihr seid

Nie wieder alleine

G. K.

 

Vorwort

In der Geschichte der Menschheit wurden technische Neuerungen schon immer mit Angst und Argwohn betrachtet.

Wann immer Menschen eine neue Technik erfunden haben, setzte neben Euphorie und Begeisterung auch eine Welle der Kritik und der massiven Verunsicherung ein.

So wurde aufgrund der massenhaften Verbreitung des Buches in der Mitte des 19. Jahrhunderts voller Sorge kommentiert, dass das Lesen die Frauen von ihren familiären Pflichten abhalten könne. Als die ersten Eisenbahnen in Betrieb genommen wurden, ängstigte man sich, dass der menschliche Organismus die Geschwindigkeit, mit der die Bahn fuhr, nicht aushalten würde und die Menschen an der zu hohen Geschwindigkeit sterben könnten.

Als das Fernsehen als Medium aufkam und die kommerziellen Fernsehsender zur Massenunterhaltung eingeführt wurden, betrachteten dies in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts zahlreiche Autoren als den Beginn eines kulturellen Zusammenbruchs.

Auch die Folgen der Digitalen Revolution sind inzwischen schon in zahlreichen Büchern besprochen worden. Viele ziehen dabei ein eher negatives Fazit, egal, ob es dabei wie in der Neurowissenschaft um die Veränderung unserer Gehirne geht oder um die Verhaltensänderungen und Abhängigkeiten, wie sie sich aus dem unkontrollierten Konsum von Computerspielen und grausamer oder einseitig-unreflektierter bis gar unwahrer Internet-Inhalte ergeben.

Zahlreiche Ratgeber, vor allem für besorgte Eltern von Jugendlichen, die nicht wissen, wie sie mit deren Internetsucht umgehen sollen, werden dabei von einer Reihe von Sachbüchern flankiert, in denen die politischen und wirtschaftlichen Folgen der Digitalen Revolution von ehemals glühenden Anhängern, die inzwischen zu scharfen Kritikern geworden sind, thematisiert werden.

Wozu braucht es dann also noch ein weiteres Buch zu diesem Thema, werden Sie sich zu Recht fragen.

Nun, weil meine Analyse den einzelnen Menschen und seine Beziehungen in den Mittelpunkt stellt und dabei insbesondere die psychologischen und philosophischen Aspekte unseres Fühlens, Denkens und Handelns.

Sowohl unsere Identität als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, die uns ausmachen und uns durchs Leben begleiten, haben sich durch die Digitale Revolution schon jetzt stark verändert. Es sei denn, wir sind alt, leben völlig abgeschottet und lehnen die digitalen Technologien ab.

Die Menschen ziehen sich immer mehr aus der direkten Beziehung von Mensch zu Mensch zurück und gehen stattdessen intensive Beziehungen mit ihren Laptops, Tablets und ihren »Ich-Apparaten«, den Smartphones, ein.

Mit ihnen verbringen sie oft mehr Zeit als mit ihren Partnern, ihrer Familie und ihren Freunden. Viele von uns sind nichts mehr ohne diese emotionalen Hilfsmaschinen.

Wenn ich in diesem Buch also von Handysucht spreche, meine ich damit immer die Abhängigkeit von Smartphones und den dafür entwickelten Apps sowie die Abhängigkeit von Bildschirmen generell.

All diese Maschinen ermöglichen uns den permanenten Zugang zu global vorhandenem Wissen und unzähligen Informationen. Sie lassen potenziell auch großartige Verbindungen zwischen Menschen auf der ganzen Welt entstehen – genauso wie es die Erfinder und Schöpfer des Internets beabsichtigt haben. Die Realität sieht allerdings anders aus. Denn der Preis der neuen Technologien kann ein gestörtes Verhältnis zu uns selbst sein: Wir kommen uns selbst abhanden. Und was genauso entscheidend ist: Wir verlieren den »realen« Kontakt zu unseren Nächsten.

Dadurch, so meine These, sind wir bereits jetzt schon narzisstischer, einsamer, hysterischer und aggressiver geworden und werden es zunehmend mehr.

Ebenso bin ich davon überzeugt, dass wir alle immer mehr entsprechend den Wunschvorstellungen einiger digitaler Weltkonzerne agieren.

Wir leben nach Idealen, die uns Weltkonzerne vorgeben, ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Menschen werden zukünftig dank entsprechender digitaler Produkte und Inhalte immer mehr wie Maschinen handeln, während die Maschinen im Sinne ihrer Erfinder immer menschlichere Züge annehmen. All dies im Dienst der Gewinnmaximierung weniger weltumspannender Konzerne und einer elitären und scheinheiligen Cyberelite, der es egal ist, wenn unzählige Menschen von ihren Produkten abhängig werden.

Die Verlierer der Digitalen Revolution sind vor allem Millionen junger Menschen, die immer passiver und abhängiger werden – der lästige Abfall einer hypermodernen und zukunftsweisenden glanzvollen Entwicklung, die sich in technisch immer perfekteren Sphären abspielt.

Das Endziel dieser Entwicklung ist eine vollkommen digital vernetzte Welt, mit einer perfekten Technik und Menschen, die sich an den digitalen Konsum- und Freizeitkapitalismus angepasst haben, dadurch berechenbar sind und Geld bringen. Durch den Kauf ständig neuer, noch besserer Geräte, Programme und Apps, die lösungsorientiert unseren Haushalt optimieren und unseren Alltag ebenso erleichtern wie unser Privat- und Liebesleben – sei es in Form von komplett digital vernetzten Haushalten, selbstfahrenden Autos, Partnerschafts- und Problemberatungsbörsen. Dem Algorithmus sei Dank!

Wir Menschen sind aber Lebewesen, die unser Leben gestalten möchten. Wir zeichnen uns durch Eigeninitiative, selbstständiges Abwägen und Entscheiden aus, wodurch wir uns potenziell weiterentwickeln können. Was geschieht mit uns, wenn wir uns immer passiver an eine Welt anpassen, die durch Konsum und Technik gekennzeichnet ist?

In Zukunft werden viele Denk- und Arbeitsleistungen der Menschen von Maschinen übernommen und die direkten menschlichen Kontakte nach und nach durch virtuelle, künstliche ersetzt werden. In der Arbeitswelt und im Privatleben. Roboter und Smartphones ersetzen menschliche Kontakte. Genauso wird sich das Bild, das wir uns von uns selbst machen, von unseren künstlichen, selbst zusammengebastelten Identitäten unterscheiden. Es gilt heute schon als erwiesen, dass immer mehr Menschen den Spagat zwischen ihrer wahren und ihrer Online-Identität nicht mehr schaffen.

Die mikroelektronische Revolution seit Mitte der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts wird als technologischer Kern einer neuen, industriellen Revolution angesehen: der Digitalen Revolution, an deren Anfang wir gerade erst stehen. Sie wird die Welt noch viel umfassender verändern, als wir es uns vorstellen können.

Das World Wide Web, und das ist meine dritte These, hat zu einer gewaltigen Narzissmus-Epidemie geführt. Stand am Anfang des Internets noch die Idee des »Miteinander-vernetzt-Seins« im Mittelpunkt, dient es heute hauptsächlich der Selbstverliebtheit und Selbstdarstellung.

Auch der Ton, mit dem im Netz kommuniziert wird, ist zunehmend rauer und verletzender geworden. Da man sich nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, scheint nicht nur der »gute Ton« fast gänzlich verschwunden zu sein. In politisch schwierigen und unruhigen Zeiten ist das Netz schon lange Schauplatz verbaler Massenpöbeleien und Weltverschwörungsideen geworden. Sogar eine eigene Bezeichnung »Social Bashing« gibt es heutzutage schon für das (öffentliche) Belästigen und Diffamieren von anderen Personen im Internet.

All diese Entwicklungen verstärkend kommt noch hinzu, dass wir inzwischen in einer Welt leben, in der uns eine permanente Aufmerksamkeitsökonomie abverlangt wird und unser soziales Umfeld von uns erwartet, dass wir überall mitmachen. Dass der ständige Erwartungsdruck uns krank macht, zeigen vor allem unsere Kinder und die ansteigenden Zahlen von Burn-outs bei Erwachsenen. Setzt sich diese Entwicklung fort, werden in einigen Jahrzehnten nicht mehr nur die Jüngsten, sondern bereits mehrere Generationen an einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung und anderen psychischen Erkrankungen leiden.

Das Netz zerstreut uns alle – nachhaltig.

All diese unglaublichen Veränderungen im und durch das Netz haben in nur fünfundzwanzig Jahren mit einer sich immer schneller potenzierenden Geschwindigkeit stattgefunden, also in einer, was die geschichtliche Dimension anbetrifft, extrem kurzen Zeit. Surften Ende 1994 weltweit noch zehn Millionen Menschen im Web, sind es mittlerweile mehr als drei Komma fünf Milliarden, also knapp die Hälfte der Weltbevölkerung.

Durch die enorme Wachstumsgeschwindigkeit des Netzes werden sich nicht nur Medien, Unternehmen und die Wirtschaft rasant verändern, sondern wir alle. Und mit uns unsere gesellschaftlichen Werte und Vorstellungen, unsere Beziehungen und Gefühle.

Die Zyklen der digitalen Innovationen spielen sich in wenigen Jahren oder gar Monaten ab. Alles muss schnell und am besten gleichzeitig geschehen. Gerade in der Internetökonomie zählen nur Geschwindigkeit und der Erfolg eines Produktes. Die Firmen, die die Trends zuerst erkennen und über genügend Investitionskapital verfügen, kommen weiter, die Langsameren bleiben auf der Strecke.

Dennoch nehmen wir die Auswirkungen der Digitalen Revolution inzwischen als gegeben hin, akzeptieren die Veränderungen, die diese mit sich bringt, als völlig normal. An ein Leben vor und ohne Computer, Internet und Handy können wir uns kaum erinnern. Wir wundern uns nicht mehr darüber, dass in den öffentlichen Verkehrsmitteln kaum noch Menschen sitzen, die nicht gedankenverloren aufs Display ihres Smartphones schauen. Handys gehören inzwischen ganz selbstverständlich zum Straßenbild. Sie werden kleinen Kindern in die Hand gedrückt, im Restaurant auf den Tisch gelegt und ungeniert benutzt. Sie werden morgens als Erstes gecheckt, und abends vor dem Einschlafen gilt ihnen unser letzter Blick. Sie sind allgegenwärtig, ohne sie scheint nichts und nirgendwo mehr etwas zu gehen.

Das Internet ist ein Medium, das unsere Kultur extrem verändert hat und noch weiter verändern wird. Ich wage zu behaupten, dass wir in zwanzig Jahren mit einer komplett neue Form des Zusammenlebens konfrontiert sein werden und uns verwundert die Augen reiben und uns fragen werden: Wie konnte das geschehen, welche Entwicklung hat uns da überrannt? Wird nun unsere Welt und unser Leben durch die virtuelle Parallelwelt verbessert, verschlechtert oder »nur« verändert?

Bei dieser Fragestellung geht es auch um die Werte, die uns wichtig sind. Denn eine Entwicklung mit einer solch allumfassenden Sprengkraft wie die der Digitalen Revolution kommt ohne eine sie flankierende, reflektierende Werte-Diskussion nicht aus. Zumal die rasante technische Entwicklung ja nicht stehen bleibt, sondern unser Alltagsleben weiterhin verändern wird. Bei einer differenzierten Betrachtung der seelischen Folgen der digitalen Revolution geht es daher um nichts anderes als um so grundlegende Dinge wie:

Unsere Identität

Unsere Gefühle

Unsere Beziehungen

Unsere persönliche Freiheit und Sicherheit

Unsere Demokratie

 

Die Nutzer

Wenn man nicht sagen kann, wie wir eine gesellschaftliche
Katastrophe abwenden können, dann ist vielleicht schon der
Versuch nützlich zu verstehen, warum sie sich ereignet …

Neil Postman, Das Verschwinden der Kindheit

1. Die Kinder: Wir spielen da, wo die Steckdosen sind

Herbst 2015

Ein Hotel in Italien

Beim Abendessen mit meinem Mann fällt mir auf, wie still die Kinder der anderen Gäste sind. Sie sind ruhig und mit sich selbst beschäftigt, was kein Wunder ist. Werden sie von ihren Eltern doch in ihr Kinderstühlchen gesetzt, bekommen von ihnen als Nächstes ein Tablet hingelegt und fangen sofort damit zu spielen an. Die Eltern können sich deshalb völlig entspannt und ungestört unterhalten, schieben den Kindern nur ab und zu beiläufig einen Löffel voll Essen in den Mund. Es ist schon praktisch: Das Tablet bewirkt, dass es keine Kinder mehr im Restaurant gibt, die die Ruhe stören. Mit dem Tablet spielende Kinder müssen nicht beaufsichtigt werden und stören nicht.

Am nächsten Tag am Strand: Auf Strandliegen bemerkt man sich bewegende Handtuchberge, ab und zu eine sanfte Bewegung, aus der man schließen kann, dass unter den Handtüchern jemand liegt. Es sind die Bewegungen von Kindern, diesmal größeren als gestern Abend im Hotel. Sie haben die Handtücher über sich gezogen, damit die Sonne sie nicht beim Spielen oder Surfen mit ihren Tablets stört. Manchmal kommt eines unter seinem Handtuch hervor und geht in den Pool. Auch hier ist es überraschend ruhig, denn die Jungs und Mädchen ziehen es vor, sich mit ihren Geräten zu beschäftigen, und scheinen es eilig zu haben, schnellstmöglich wieder zu ihnen zurückzukommen.

Berlin im Winter

Wir sitzen mittags in einem Restaurant. Ein russisches Paar kommt mit einem zirka einjährigen Jungen herein. Der Mann wie die Frau wirken attraktiv und intelligent. Das Kind wird aus dem Wagen gehoben, die Mutter zieht ihm die Jacke aus. Es wird in einen Hochstuhl gesetzt, und ohne mit ihm zu sprechen, legt die Mutter ein Tablet vor es hin.

Die Eltern vertiefen sich in die Speisekarte, bestellen, unterhalten sich und essen. Ab und zu wird dem Jungen etwas in den Mund geschoben, den er, berührt der Löffel seine Lippen, brav aufmacht. Er nimmt den Löffel Kartoffelbrei, schluckt und spielt weiter.

Wenig später lese ich in der BUNTEN, dass Prinz William von England und seine Kate stolz sind, dass ihr einjähriger Sohn schon ein Smartphone benutzen kann.

In ein Café kommt eine Mutter mit Kinderwagen herein. Das Kind kann gerade einmal sitzen. Ich schätze es auf neun Monate. Die Mutter holt sich einen Cappuccino, drückt dem Baby ein Smartphone in die Hand, zieht ihr eigenes Handy aus der Tasche und beginnt zu telefonieren.

Jesolo, Sommer 2015

Es gibt kaum noch Kinder, die im Sand buddeln und Löcher graben oder Sandburgen bauen. Die meisten Kinder liegen im Schatten der Schirme und spielen mit ihren Handys, manche liegen unter Handtüchern und spielen auf den Liegen.

Ihre Eltern finden das normal. Ich dagegen nicht. Ich stelle mir die Frage, ob es wirklich schon ganz normal ist, dass Eltern sich nicht mehr mit ihren Kindern beschäftigen, sondern sie auf diese Art und Weise ruhigstellen.

Toskana, Mai 2016

Abendessen auf der Terrasse eines wunderschön gelegenen Hotels mit Blick über die im Abendlicht zart verschwimmenden Hügel. Am Nebentisch eine junge englische Familie mit Ben, ihrem vierjährigen Sohn. Die Eltern unterhalten sich über berufliche Herausforderungen. Aus dem Gespräch, das so laut geführt wird, dass ich es ungewollt mithören muss, ergibt sich, dass beide Anwälte sind. Ben starrt in ein Handy, das seine Eltern vor ihm aufgestellt haben. Doch Ben ist unkonzentriert: Er interessiert sich mehr für meine Hündin Alma und unterbricht seine Eltern. Der Vater reagiert unwirsch: »Ben, schau dir deinen Film an.« Ben will aufstehen und mit dem Handy herumgehen.

»Nein, Ben, du darfst den Film nur am Tisch anschauen.« Ben springt daraufhin auf und ruft laut: »Der Mond, der Mond, schaut wie schön.« Seine Eltern gehen kurz auf seine Bemerkung ein, dann stellen sie wiederum das Handy vor ihm auf. Immer wieder will der kleine Ben mit seinen Eltern kommunizieren, er zeigt auf den Hund, er zeigt auf die Bäume, er zeigt in den Himmel. Aber sie schieben ihm immer wieder das Smartphone hin. Sie reagieren ungehalten. Sie fühlen sich ganz offensichtlich von ihrem Sohn gestört.

Der amerikanische Soziologe und Medienforscher Neil Postman beschrieb schon 1982 in seinem Buch »Das Verschwinden der Kindheit«, wie sich die modernen Medien auf den Sozialisationsprozess von Kindern auswirken. Damals bezog der Wissenschaftler sich vornehmlich auf die Auswirkungen übermäßigen Fernsehkonsums, denn Computer, Internet und Smartphones gab es in der heutigen Form und Verbreitung noch nicht. Dennoch lassen sich die Ansichten und Erkenntnisse seines Buches ohne Weiteres auf die jetzige Situation von Kindern übertragen. Denn was Postman damals vorhergesagt hat, ist nicht nur schon lange eingetreten, sondern wird durch die Digitale Revolution noch um ein Vielfaches übertroffen.

Dass die elektronischen Medien die Kindheit zum Verschwinden bringen werden, lautete Postmans Analyse vor über dreißig Jahren, und er fand es schmerzlich, mitansehen zu müssen, wie »der Charme, die Wandelbarkeit und die Neugier der Kinder verkommen und am Ende in einem scheinbaren Erwachsensein erstarren«.

Bezogen hat sich der Autor damals natürlich auf den anwachsenden Fernsehkonsum. Denn Kinder brauchen Geheimnisse und ihre eigene ungestörte Kinderwelt, eine Welt fern von den Erwachsenen.

Meine weiter oben angeführten Beispiele bezogen sich alle auf Kinder, die zwischen neun Monaten und vier Jahre alt sind und von ihren Eltern einen elektronischen Babysitter, ein Smartphone oder ein Tablet bekommen haben,

Sie zeigen, dass immer mehr Eltern ihre Kinder schon im Babyalter den digitalen Medien aussetzen, was ich als extrem gefährlich erachte. Kinder werden viel zu früh und viel zu lange vor digitalen Bildschirmmedien abgesetzt. Die Möglichkeit, die Welt um sich herum in ihren ersten sechs Lebensjahren selbst zu entdecken, eigene Erfahrungen zu machen, Gedanken und Gefühle zu entwickeln, die ihnen nicht vorgegeben werden, wird ihnen dadurch von Anfang an genommen. Dabei wissen wir Erwachsenen doch jenseits aller psychologischen Erkenntnisse aus eigener Erfahrung nur allzu gut, wie extrem wichtig eine von der Erwachsenenwelt losgelöste Kindheit für unsere Entwicklung ist.

Was ist also der Grund dafür, dass wir unseren Kindern diese sechs Jahre eigenen Erlebens, die wir ihnen früher bis zum Schuleintritt gewährt haben, zunehmend nehmen?

Viele Eltern stehen enorm unter Druck, weil der Perfektionswahn, der unsere Gesellschaft aufgrund einer normativen Professionalisierung befallen hat, auch vor dem eigenen Kind nicht haltmacht. Unserem Kind soll es einmal besser gehen als uns, es soll mehr Möglichkeiten haben, schlauer werden, insofern kann es mit dem Lernen gar nicht früh genug beginnen. Die Kinder sollen die nötige Stimulation bekommen, dazu pädagogisch wertvolles Spielzeug und müssen schon als Baby inspirierende Kurse besuchen wie Baby-Gymnastik oder Baby-Englisch – und eben schon als Kind die ersten Computerkenntnisse haben.

Für Eltern, die beruflich im Stress sind, gibt es deshalb speziell für Babys geschaffene Programme auf DVD. Videospiele für Babys ab neun Monaten stellen keine Seltenheit mehr dar.

Gerade aber weil Eltern heutzutage oftmals beruflich gestresst sind und wenig Freizeit haben, missbrauchen sie sowohl das Fernsehen als auch das Handy als elektronischen Babysitter, wenn sie erschöpft von der Doppelbelastung Beruf und Kindererziehung eine kleine Auszeit brauchen. Das lässt sich gut nachvollziehen, doch ich finde, man sollte diesen Umstand nicht mit »frühkindlichem Lernen« begründen.

Inzwischen gibt es zahlreiche Apps, die auf Eltern mit Babys zugeschnitten sind. Sie lassen sich problemlos aufs Handy runterladen, das danach ins Babybett gelegt wird, um den Kindern das Einschlafen zu erleichtern. Dreißig Minuten lang singen fremde Frauen den Babys dann per App Schlaflieder vor, und wenn das Kind danach immer noch Geräusche von sich gibt, wiederholen sich die Lieder so lange, bis das Baby schläft. Es gibt auch Apps, die ein Smartphone wie ein Baby-Phone funktionieren lassen. Die Eltern können abends aus dem Haus gehen und auf einem zweiten Handy die Geräusche, die ihr Baby von sich gibt, empfangen.

Ist doch prima, wird so mancher sagen. Die Eltern können auf diese Weise etwas miteinander unternehmen oder ausspannen, und die Kleinen sind trotzdem versorgt und überwacht!

Worin soll auch der Unterschied zwischen einer Schlafuhr aus Plüsch, die am Bettchen des Kindes aufgezogen wird, und einer Schlaflied-App bestehen? Ist ein Schnuller nicht auch ein Hilfsmittel, das Eltern benutzen, um ihr Kind zu beruhigen?

Das ist sicher richtig. Trotzdem gibt es Unterschiede. Die liegen zunächst einmal in der haptischen Qualität des Produktes: Hier die stoffliche Oberfläche, die Wärme und Geborgenheit vermittelt, die Zufriedenheit und Ruhe gibt, dort das technische, »kalte« Gerät, das ins Kinderbett gesteckt wird. Und noch einmal eine ganz andere Qualität haben wir, wenn ein Elternteil sein Kind selbst ins Bett bringt, es zudeckt, ihm über den Kopf streicht, ihm ein Schlaflied singt und ihm durch seine Gegenwart Geborgenheit und Sicherheit vermittelt, bis es eingeschlafen ist.

Emotionale Bindung als sichere Basis für Lernen und soziales Leben

Direkte Zuwendung, Liebe und körperliche Nähe sind menschliche Grundbedürfnisse. Schon Ende der Fünfzigerjahre hat der amerikanische Psychologe und Verhaltensforscher Harry Harlow ein legendäres Experiment mit Rhesusäffchen durchgeführt, mit dem er die Wichtigkeit der Eltern-Kind-Beziehung unter Beweis stellte.

In seinem Versuch trennte er die neugeborenen Affen von ihren Müttern und stellte stattdessen zwei leblose Ersatzattrappen in ihren Käfig: eine aus Draht mit einem eingebauten Fläschchen in Höhe der Brust, die Milch geben konnte, und eine mit einem kuscheligen Körper aus Fell.

Das Resultat des Experimentes war, dass die Äffchen zwar kurz von der Milchflasche im Drahtgestell tranken, sich aber ansonsten an die »Fellmutter« schmiegten, die ihnen Geborgenheit und Wärme zu vermitteln vermochte. Auch wenn Harlow die kleinen Äffchen erschreckte, indem er mechanische Monster auf sie losließ, flüchteten die Äffchen sich in den Schutz der Mutter, die aus Fell nachgebaut war. An diesem Experiment ist vor allem beachtlich, dass die kleinen Äffchen lieber verhungert sind, als die Wärme und Geborgenheit, die ihnen die Stoffmutter gab, gegen die Milch der Drahtgestell-Mutter einzutauschen.

Das Bindungsbedürfnis von Säugetieren und Menschen hat evolutionäre Wurzeln, da der Nachwuchs auf unmittelbare Nähe angewiesen ist, um überleben zu können. Nähe und Zuwendung haben deshalb auf die Entwicklung der Kinder eine positive Auswirkung, die gar nicht überschätzt werden kann.

Interessant ist dabei auch, dass unser Gehirn gewisser frühkindlicher Erfahrungen bedarf, um überhaupt neuronale Strukturen zur Ausbildung kognitiver und emotionaler Fähigkeiten entwickeln zu können. So überschneiden sich unter anderem die Strukturen, die für körperlichen Schmerz zuständig sind, mit denen für Trennungsstress von einer geliebten Person.

Der Mangel oder gar das Fehlen von zärtlicher Zuwendung hat oft katastrophale Folgen: verzögerte geistige und körperliche Entwicklung, soziale Kontaktstörungen, Angstzustände und Wutanfälle.

Bereits in den Fünfzigerjahren hatte der britische Kinderpsychiater John Bowlby begonnen, die Folgen zerrütteter und/oder abgerissener Mutter-Kind-Beziehungen systematisch in den Blick zu nehmen. Mit seinem Buch »Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung« begründete er die Bindungstheorie, die heute allgemein anerkannt und unwidersprochen ist. Sie geht davon aus, dass Menschen ein ihnen angeborenes Bedürfnis nach emotionalen Beziehungen haben.

Folgen negativer wie positiver Bindungserfahrungen lassen sich empirisch direkt nachweisen. Das gilt sowohl in Hinblick auf kurzfristige Effekte – so hilft den Babys der Hautkontakt mit den Eltern, Atmung, Kreislauf und Stoffwechsel zu stabilisieren – wie für langfristige. So weiß man aus psychologischen Langzeitstudien, dass Menschen mit sicheren frühkindlichen Bindungen später sozial kompetenter sind, über ein gesundes Selbstwertgefühl verfügen, Krisen besser verkraften und seltener an Süchten und anderen psychischen Erkrankungen leiden.

Und noch eine weitere Auswirkung haben positive Bindungserfahrungen. Harlow kam in seinem Experiment mit den Rhesusäffchen zu folgendem Ergebnis: Waren diese alleine oder mit der Drahtmutter in fremder Umgebung, verhielten sie sich ängstlich und passiv. War dagegen die Fellmutter im Raum, ließen sie ihrer Neugierde ganz unbekümmert freien Lauf. Mary Ainsworth, eine weitere Pionierin der Bindungstheorie, hat dafür den Begriff der »sicheren Basis« geprägt. Wer bei seiner Bezugsperson sicheren Halt und Trost findet, gewinnt auch genug Sicherheit, um Erkundungen auf eigene Faust zu unternehmen – Kinder wagen dann, ihrem Entdeckerdrang nachzugehen und sich auf neue Situationen, Erfahrungen und Menschen einzulassen.

Bindungen sind also nicht nur ein überlebensnotwendiges Arrangement in Zeiten der Hilfsbedürftigkeit und ein emotionales Trostbonbon in schweren Momenten – sie sind auch die entscheidende Grundlage für das Lernen und die Entwicklung hin zu einem eigenständigen und selbstverantwortlichen Leben.

Was passiert nun, wenn Eltern ihre Kleinkinder schon in frühen Jahren regelmäßig vor dem Fernseher absetzen oder sie mithilfe der digitalen Medien ablenken? Hat das »nur« Auswirkungen auf die Konzentrationsfähigkeit der Kleinen oder auch auf ihr späteres Sozialverhalten? Wird hier von den Eltern die »Drahtmutter« gewählt, oder gibt es frühkindliche Bedürfnisse, die tatsächlich von den virtuellen Medien befriedigt werden?

Manfred Spitzer, der bekannte Gehirnforscher, beschreibt in seinem Buch »Digitale Demenz« den Trend, Kleinkinder vor dem Fernseher und Computer abzusetzen, der wie so viele andere aus den USA zu uns gekommen ist. In den USA sehen fast alle Kinder, die das zweite Lebensjahr erreicht haben, regelmäßig fern.

Spitzer zitiert zum Thema Baby-Fernsehen auch einen Beitrag in Spiegel Online vom 14.2.2011: »Die Fernsehwirtschaft hat seit einigen Jahren eine neue Zielgruppe erschlossen: Menschen zwischen vier und vierundzwanzig Monaten. Das sogenannte Baby-Fernsehen ist inzwischen zu einer fünfhundert Millionen Dollar schweren Industrie gewachsen. Lag in den Siebzigerjahren das Einstiegsalter für regelmäßigen Fernsehkonsum noch bei vier Jahren, liegt es jetzt bei vier Monaten.«

Ebenso gibt Spitzer in seinem heiß diskutierten Buch auch eigene wissenschaftliche Untersuchungen wieder, die klar beweisen, dass das Fernsehen und digitale Medien für das Lernen im frühen Kindesalter völlig ungeeignet und für Kinder unter vier Jahren sogar schädlich sind. Er zeigt außerdem, dass im Gegenteil für das Lernen von Babys und kleinen Kindern neben der Genetik allein der soziale Kontakt ausschlaggebend ist. Dieses Ergebnis steht eindeutig im Widerspruch zu den vielen multimedialen Angeboten für Kleinkinder. Aber wie immer geht es bei diesen Angeboten auch um neue Produkte und damit ums Geld. Kinder lernen vor allem durch die Interaktion mit ihren Eltern.

»Wenn aber Babys einen wesentlichen Teil ihrer wachen Zeit einem Medium ausgesetzt sind, von dem sie – im Gegensatz zur wirklichen Welt und wirklichen Menschen – nichts lernen können, dann lernen sie insgesamt weniger. Wer sein Baby zum Lernen vor einen Bildschirm setzt, der riskiert einen negativen Einfluss auf dessen geistige Entwicklung.« 1)

Spitzer belegt dieses Ergebnis mit zahlreichen Studien.

Ein weiterer Grund, Kinder nicht zu früh mit digitalen Medien zu konfrontieren, ist die Suchtgefahr, die von diesen ausgeht. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass sich eine Sucht umso wahrscheinlicher bei einem Menschen entwickelt, je früher er mit dem Suchtmittel konfrontiert wird.

Das gilt auch für die Kinder, die aus Bequemlichkeitsgründen von ihren Eltern vor digitalen Babysittern abgesetzt und sich selbst überlassen werden. Die größte Gefahr, die vom Internet für die Gesundheit unserer Kinder ausgeht, ist damit die Gefahr der Abhängigkeit.

Ich habe mich mit mehreren Müttern unterhalten, die ihren Kindern, die alle ungefähr ein Jahr alt waren, ihre Handys zum Spielen geben, auf die sie ganz bewusst bestimmte Apps für Babys und Kleinkinder heruntergeladen hatten. Keine dieser jungen Frauen zwischen siebenundzwanzig und fünfunddreißig Jahren hatte das Gefühl, dass sie ihrem Baby damit schaden könnte. Alle Mütter hatten studiert, waren offen und interessiert und machten auf mich durchaus den Eindruck, dass sie sich Gedanken über die Zukunft und das Wohlergehen ihrer Kinder machen. Gerade deshalb erschreckte es mich doppelt, wie normal es ihnen vorkam, ihre kleinen Kinder mit den meist hektischen und elektronisch klingenden Apps zu beschäftigen.

Carolin, einunddreißig Jahre alt, mit Baby Betty, elf Monate Carolin, die ich einem Café kennengelernt habe, gibt ihrem Baby ihr Handy ein paar Stunden am Tag zum Spielen. Sie erzählt mir, dass ihr Freund, der Vater des Kindes, gerade ein Praktikum in Turin macht und dass sie deshalb die meiste Zeit mit dem Baby alleine sei und dies, wenn sie ehrlich sei, sehr anstrengend finden würde.

»Die einzige Möglichkeit, mal bei mir selbst zu sein und meinen Gedanken nachhängen zu können, ist für mich, Betty mit dem Handy spielen zu lassen«, erzählt sie mir. »Ich weiß, dass das nicht gut ist, aber ich weiß mir einfach nicht anders zu helfen. Ansonsten kann ich nur bei mir sein, wenn Betty schläft, und das tut sie untertags eher selten. Verrückt ist, dass ich mich extra von der Arbeit habe freistellen lassen, um nahe bei meinem Kind zu sein, und jetzt merke ich, dass mich das ganz schön überfordert.«

Ich finde Carolins Offenheit bemerkenswert.

Gerald Hüther, einer der bekannten deutschen Gehirnforscher, meint zu dieser Thematik: »Ich denke, dass es gar nicht das entscheidende Problem ist, was in den Köpfen der Kinder passiert: Es entstehen eben schon sehr früh die Verschaltungen, die ihnen das Bedienen dieser Geräte ermöglichen und ihre innere Einstellung stärken, dass man nur ein paar Knöpfe bedienen muss, wenn etwas passieren soll. Das entscheidende Problem steckt in den Köpfen der Eltern: Sie denken nicht darüber nach, was sie tun, oder noch schlimmer: Es ist ihnen gleichgültig.«2)

An Carolins Beispiel kann man jedoch sehen, dass sie sich sehr wohl bewusst ist, dass es nicht gut ist, ein Baby von einem Jahr mit dem Handy spielen zu lassen, dass sie sich aber nicht anders zu helfen weiß. Warum lassen es Eltern wie Carolin zu, dass ihre Kinder sich auf diese Weise beschäftigen – mit Folgen, die sie nicht abschätzen können –, und setzten sie zudem schon in ganz jungen Jahren einem großen Leistungsdruck aus?

Ich denke, dass es in unserer hektischen Zeit vielen Eltern an der Ruhe fehlt und an der Gelassenheit, die man im Idealfall braucht, um ein Kind großzuziehen. Auch ich wurde mit siebenundzwanzig Jahren, als ich meinen Sohn bekam, von vielen Freunden und Bekannten gefragt, wann ich wieder arbeiten würde, obwohl ich gerade erst einmal dabei war, mich auf meine neue Situation einzustellen und auf die Beziehung zu meinem Kind einzulassen. Ich erlebte das damals als großen Druck, der heute, dreißig Jahre später, sicher noch viel größer sein dürfte, machen uns doch unsere Umwelt und die Medien permanent klar, wie einfach es sei, Elternsein und Karriere miteinander zu verbinden. Wer dafür ist, den kleinen Würmern, die wir auf die Welt bringen, ein bisschen Zeit zu gönnen, gilt schnell als reaktionär, als jemand, der die Mütter zurück an Haus und Herd zwingen will. Der Perfektions- und Leistungsdruck unserer Zeit hat die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern in vielfältiger Weise verändert.

In der »Süddeutschen Zeitung« vom 8. Mai 2015 ist zu diesem Thema ein Interview mit Asya Unger abgedruckt, der Nachhaltigkeitsbeauftragten beim Kreisjugendring München-Stadt. Sie berichtet über einen Aktionstag zur »Entschleunigung« für sechs- bis achtjährige Kinder, der unter dem Motto: »Mach mal langsam, Entschleunigung erfahren« abgehalten wird.

Zu den Stressfaktoren im Leben der Kinder befragt, nennt sie Schule und Eltern und moniert: »Viele Eltern wollen nur das Beste für ihr Kind. Durch die hohen Ansprüche baut sich ein immenser Druck auf. Kinder haben außerhalb der Schule kaum noch Zeit, in der sie machen können, was sie wollen. Eltern bieten ein breites Programm, um sie optimal zu fördern.«

Nichtstun ist diesen Kinder nicht mehr erlaubt, und sie wissen auch nicht mehr, wie sie entspannen sollen. Asya Unger empfiehlt den Kindern deshalb Yoga, einen Sinnesparcours oder Klangschalenmeditation, damit sie wieder zu sich finden. Den kleineren Kindern lesen die Pädagogen Geschichten vor, dabei dürfen sie einen Hund streicheln. Die größeren können einfach in einem Liegestuhl liegen und nichts tun.

Das sind Dinge, die in meiner Kindheit noch ohne Entschleunigungs-Kurs »normal« waren. Ich habe als Kind zwar weder Chinesisch noch Cello spielen gelernt, konnte aber ungestört stundenlang in den Himmel schauen und auf Bäumen meinen Gedanken nachhängen.

Die Einstellung, zu jeder Zeit und in jeder Hinsicht hundert Prozent Leistung erbringen zu müssen, zieht sich durch unsere Gesellschaft wie ein roter Faden, egal, ob es um Kinder oder Erwachsene geht. Einerseits haben wir es mit einer Überforderung durch Informationsüberflutung und Aktivitäten jeglicher Art zu tun. Und andererseits gerade deshalb mit einem boomenden Markt von Entspannungsangeboten und -techniken, wobei sich besonders Bücher über Entschleunigung und Achtsamkeitstraining gut verkaufen.

Dass aber schon Kinder mit einem spirituellen Ansatz zu sich selbst gebracht werden sollen, spricht nicht gegen die Pädagogen und sonstigen Anbieter dieser Entspannungsangebote, sondern gegen eine Gesellschaft, die zuvor einen solchen Druck bei den Kindern aufbaut, dass diese ihm kaum noch standhalten können. Damit wird eine Spirale in Gang gesetzt: Denn wo Druck ist, entsteht auch Verweigerung, die in der Regel noch mehr Druck erzeugt und die Kinder verstärkt vor Computern und in virtuellen Welten abhängen lässt.

In einer Fernsehdiskussion, die ich kürzlich gesehen habe, stellte sich der Moderator neben zwei Bücherstapel mit Erziehungsratgebern, die beide so hoch waren wie er selbst. Er wollte damit auf durchaus beeindruckende Weise demonstrieren, wie groß die Nachfrage der Eltern nach dem Rat von Experten ist: letztlich ein Zeichen für die Hilflosigkeit der Eltern.

Wenn uns die Zukunft der kommenden Generationen wichtig ist, sollten wir uns daher nicht nur um die Folgen der ungebremsten und unkontrollierten Mediennutzung unserer Kinder Gedanken machen, sondern auch vor dem Leistungsdruck, der auf uns allen lastet, nicht die Augen verschließen.

Und ich meine damit nicht nur den schulischen Druck, sondern auch den Anpassungsdruck: schön, sportlich und erfolgreich zu sein.

Mein Eindruck ist, dass viele Eltern denken, sie müssten ihre Kinder ständig unterhalten und bespaßen. Vertrödelte Zeit, verträumte Zeit, Zeit, die man ohne äußere Anregungen verbringt, scheint heutigen Eltern und damit auch ihren Kindern unerträglich zu sein. Ständig erklärt ein Elternteil dem Kind die Welt.

Um als Erwachsener möglichst frei, unabhängig und selbstständig zu leben, ist es jedoch notwendig, als Kind zu lernen, dass nicht jedes Bedürfnis sofort und manches sogar gar nicht befriedigt werden kann, dass es einen Bedürfnisaufschub gibt, den man aushalten muss.

Was hat es also für konkrete Folgen, wenn die Eltern ihren kleinen Kindern, noch bevor diese irgendwelche Zeichen von Unmut und Quengelei zeigen, Smartphones und Tablets in die Hände drücken?

Zum einen, dass diese wohl nur sehr schwer lernen werden, unangenehme Situationen im Leben zu ertragen und zu meistern, ohne unzufrieden mit sich und ihrem Leben zu sein. Und zum anderen, dass sie sich in der Welt, die sie gewohnt sind, sofort digital ablenken können, sobald sie ein unangenehmes Gefühl verspüren. Auf diese Weise geraten Kinder aber erst recht in eine digitale Abhängigkeit, und ihre Eltern schauen diesem Prozess kritiklos zu, befördern ihn gar. Die sensationshungrige Netzgesellschaft blendet die Kollateralschäden der digitalen Abhängigkeit aus, die diese frühen Kinderjunkies höchstwahrscheinlich erleiden werden.

Auf diese Thematik werde ich im Kapitel über Abhängigkeit und Sucht noch ausführlicher eingehen. Vorausgeschickt sei schon mal, dass in Deutschland bereits ungefähr ein Prozent der Jugendlichen spielsüchtig sind – es aber als »normal« gilt, wenn sich Kinder täglich zwei bis drei Stunden mit ihren Smartphones beschäftigen.

Ein Einkaufszentrum, München, Apple Store

Ich stehe in einer langen Schlange im Laden, um mein Handy reparieren zu lassen. Neben mir sind niedrige Tische mit lauter Tablets, eine Art digitalisierte Kinderecke, in der sich die Kinder beschäftigen können, während die Eltern einkaufen oder sich neue Produkte erklären lassen. Drei Mütter mit kleinen Kindern, die ungefähr drei, vier Jahre alt sind, kommen herein und stellen sich neben mich, sodass ich ihre Unterhaltung verfolgen kann. Zwei der Kinder setzen sich sofort auf die kleinen Stühlchen und beginnen zielbewusst mit den Tablets zu spielen. Ein kleines Mädchen schmollt und stampft mit dem Fuß auf, sie will sich nicht hinsetzen. Ihre Mutter beschwert sich darüber bei den anderen Müttern. »Janine spinnt! Sie will einfach nicht mit dem Tablet spielen, ich hab mir schon überlegt, ob ich sie zum Psychologen schicke. Alle Kinder wollen das, nur sie nicht! Verdammt noch mal, Janine, jetzt setz dich einfach hin und spiel, Mann, oh Mann, das kann doch nicht so schwer sein.« Die Mutter ereifert sich weiter über ihr gestörtes Kind, und Janine weint laut und schreit: »Ich mag das einfach nicht.«

Es ist ganz normal und menschlich, dass Eltern von Zeit zu Zeit ihre Ruhe haben möchten. Es ist auch normal, dass Eltern ihr Abendessen in Ruhe einnehmen wollen, aber genauso normal ist es auch, dass sich Kinder in solchen Situationen langweilen, da sie nicht kindgerecht sind. Das steife Stillsitzen, das erzwungene Leisesein. Früher nahm man deshalb prophylaktisch Buntstifte und ein Mal- oder ein Bilderbuch für seine Kinder mit, mit dem sie sich beschäftigen konnten. Bilderbücher anzuschauen oder selbst etwas zu malen, stellt einen kreativen Prozess dar, können Kinder anhand der Bilder doch in geheimnisvolle und ihnen unbekannte Welten abtauchen oder eigenhändig etwas gestalten.

Was Eltern der neuen Generation, der »natural born digitals«, ihren Kindern oftmals anbieten, hat hingegen nichts mehr mit Kreativität zu tun, sondern nur noch mit dem Konsum vorgefertigter Formate, die die Kinder von sich selbst ablenken und ihre Fantasie im Keim ersticken. Kinder wie die kleine Janine im Einkaufszentrum, die sich nicht mit vorgefertigten Unterhaltungsformaten beschäftigen wollen, sind daher selten geworden. So verkommt die Kindheit, die eigentlich eine Zeit des Träumens und freien sich Ausprobierens sein sollte, zu einer Zeit des Konsums industrieller Unterhaltungsangebote.

Bert te Wildt leitet als Oberarzt die Ambulanz der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie im Universitätsklinikum Bochum. Er beschreibt in seinem lesenswerten Buch über Internet- und Spielsüchtige das Smartphone als das Einstiegsvehikel in die Abhängigkeit von digitalen Medien. Kinder, die mit dieser Art von elektronischer Nabelschnur heranwachsen, werden, so te Wildt, in der analogen realen Welt und in ihrem Körper niemals wirklich ankommen und heimisch werden.

»Die immer komplexer werdenden Spielwelten und sozialen Netzwerke, in denen man quasi alles sein und alles machen kann, sind extrem verführerisch. Die reale Umwelt kann mit ihren Faszinationen kaum konkurrieren. Eltern und Großeltern können ein Lied davon singen, wie schwer es ist, ihre Kinder von den Computerspielen loszueisen und für einen Ausflug in die reale Welt zu gewinnen. Mehr oder weniger bewusst stimmen Eltern aber auch ein Loblied auf die Welt der Unterhaltungselektronik an, wenn es darum geht, die neuen Medien als Babysitter zu benutzen. Nur Medikamente können Kinder besser ruhigstellen als Fernsehen und Computerspiele.«3)

Genau deswegen haben es die Tablets auch schon fast bis in die Kinderkrippen geschafft:

Eine Kinderkrippe in einem der teuersten Viertel Münchens Claudia arbeitet hier seit drei Jahren als Erzieherin. Es kostet Eltern über tausend Euro im Monat, ihre Kinder von halb acht bis halb vier in dieser Krippe unterzubringen. Claudia erzählt mir, dass es oft herzzerreißend sei, wie sich die Kinder die Seele aus dem Leib schreien, wenn ihre Mamis oder Papis sie hier zurücklassen.

Die Jüngsten würden gerade erst lernen, zeitweise von ihren Eltern getrennt und stattdessen in einer Krabbelgruppe zu sein. Im Moment sei dort Eingewöhnungszeit. Die armen Zwerge brüllen, wenn die Mütter den Raum verlassen. Einige Mütter sind nun auf die Idee gekommen, den Kindern ihr Tablet zu geben, damit sie möglichst schnell aufhören zu schreien. Man habe sich aber im Team darauf geeinigt, dies nicht zuzulassen, denn es könne ja schließlich nicht sein, dass hier lauter Einjährige mit Tablets herumsitzen würden. Die Mütter seien meistens allerdings schon ärgerlich, wenn die Erzieher ihren Wunsch nicht akzeptierten.

Eltern beruhigen ihre Kinder heutzutage, indem sie ihnen ein Handy zum Spielen geben. Die Methode, selbst ganz ruhig und damit auch beruhigend mit ihren Kindern zu reden, sie zu trösten und zu streicheln, ist, wie es scheint, verloren gegangen.

Ein mir bekannter Kinderarzt, Dr. Simon Mayer, der eine große Praxisklinik, die M1 Diagnoseklinik, in der Mitte von München leitet, in der außer deutschen Kindern vor allem arabische und russische behandelt werden, erzählte mir, dass es kaum noch Eltern gibt, die ihre Kinder während der Untersuchung oder bei einer schmerzhaften Spritze zu beruhigen versuchen, ohne ihnen dafür ein Handy ins Händchen zu drücken.

Eine Alternative zum Handy wäre dann noch, dass viele Eltern ihre Kinder bei der Blutabnahme oder Impfung filmen, um sie abzulenken, und dieses Filmchen dann per WhatsApp weiterschicken, zum Beispiel an den abwesenden Papa des Kindes.

Ich bezweifle, ob den Eltern, die ihren kleinen Kinder Smartphones in die Hand drücken, bewusst ist, dass sie damit ihren Nachwuchs auf ein Leben in der künstlichen Matrix des Internets vorbereiten. Die Kleinen werden zwar sehr schnell lernen, mit der Technik umzugehen, aber sie werden sich auch daran gewöhnen, negative Gefühle wie Unruhe und Traurigkeit mithilfe der Smartphones zu verdrängen, was unter Umständen die Basis für eine spätere Internet- und Spieleabhängigkeit darstellt. Und vor allem geht ihnen die Erfahrung ab, dass es ihren Eltern gelingt, sie trotz ihrer Schmerzen zu trösten. Das bestätigt meine These, dass in der Folge der Digitalen Revolution natürliche Kontakte von Mensch zu Mensch immer mehr durch den »Kontakt« Mensch und Maschine ersetzt werden.

Aber was fast genauso schlimm ist: Die Kreativität, die ja alle Kinder in sich tragen, und die Neugierde auf die Welt werden durch die ständige Beschäftigung mit vorgefertigten Unterhaltungsformaten unterbunden.

Ich habe neulich einen sehr interessanten Film über einen uralten französischen Zeichenlehrer gesehen. Dieser bedauert, dass die Kinder, die in die Schule gehen, dort nur noch vorgefertigte Muster aufs Papier bringen. Sie malen, was alle malen. Er meint, dass die ganz kleinen Kinder im Vorschulalter dagegen noch viel kreativer und ausdrucksstärker, wilder und bunter malen würden, und zeigt dies anhand von Tausenden von Kinderbildern.

Konkret heißt das, dass der gesellschaftliche Leistungsdruck, der sich heute auch in der Schule zeigt, die Kreativität der Kinder schwächt. Kreativität hat immer auch etwas mit der Freiheit zu tun, spontan sein zu können. Doch wenn Kinder schon vor ihrer Einschulung und auch in der Schule in ihrer Kreativität gehemmt werden, wie wirkt sich dann erst der permanent zunehmende Konsum der hektischen Apps und Inhalte im Netz auf ihre Kreativität aus?

Kinder verbringen heute den größten Teil ihrer Zeit in geschlossenen Räumen und vor Bildschirmen. Mit der Natur haben sie kaum noch Berührungspunkte. Sie spielen da, wo Steckdosen sind. In den USA ist es inzwischen unüblich geworden, dass Kinder im Freien spielen.

Die Digitale Revolution fordert als konsequente Weiterentwicklung der Industrialisierung und Technisierung auch hier ihren Tribut. Der Preis für unsere Entfremdung von der Natur ist enorm, wird aber, wenn er bemerkt wird, meist nur im Sinn einer verklärten Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land sublimiert. Die Entfremdung zeitigt vor allem: verringerte Sinneserfahrungen, Unkenntnis der natürlichen Kreisläufe, von denen wir nach wie vor ein Teil sind, ein artifizielles Leben aus zweiter Hand. Damit einher gehen körperliche und seelische Erkrankungen.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen unserer körperlich-geistigen und seelischen Gesundheit und unseren Kontakten mit der Natur. Genauso, wie Kinder gute Ernährung und ausreichend Schlaf benötigen, brauchen sie auch Naturerlebnisse, die ihnen eine ganz eigene wundersame und stimmige Welt unabhängig von ihren Eltern eröffnet. Ein Baumhaus als Rückzugsort, ein Haustier, eine Ecke auf einem unbebauten Grundstück, wo man mit seinen Freunden zusammensitzen kann. Anders als das Fernsehen stiehlt die Natur keine Zeit, sondern regt die kindliche Kreativität an und fördert den Einsatz aller Sinne. Mittlerweile werden deshalb sogar Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrome durch den durchdachten Einsatz von Naturerfahrungen therapeutisch verbessert.

»Wie die meisten von uns haben auch Wissenschaftler die Beziehung Kind/Natur für selbstverständlich gehalten. Wie konnte sich etwas so Zeitloses in so kurzer Zeit verändern? Und wenn einige Forscher diese Frage stellten, wurden sie als sentimentale Nostalgiker verspottet. Ein Grund dafür ist, dass es keinen materiellen Anreiz für solche Fragen gibt. Einer der großen Vorteile unstrukturierter Freizeit in der Natur ist, dass sie nichts kostet«, erklärt James Sallis, Leiter des Active Living Research Program in den USA. Weil das Spielen in der Natur umsonst ist, sind keine größeren kommerziellen Interessen damit verbunden … »Wenn Kinder draußen Fahrrad fahren oder herumlaufen, verbrennen sie keine fossilen Brennstoffe, sie sind keine werbeträchtige Zuschauermenge, sie bringen niemandem einen finanziellen Vorteil.« 4)

Forscher konstatieren in diesem Sinne eine neue »Naturdefizitstörung« und einen dramatischen Naturmangel unserer Kinder. Sie kennen den Inhalt digitaler Spiele tausendmal besser als die heimischen Tier- und Pflanzenarten.

Kinder des digitalen Zeitalters wachsen nicht nur größtenteils an eine Wohnung oder ein Haus gebunden auf, sondern in noch engeren räumlichen Dimensionen: Sie sind auf Zimmer fixiert. Sie verbringen immer mehr Zeit in Autositzen, Babywippen und Kinderhochstühlen mit dem Smartphone in der Hand.

Die Anzahl der Stunden, die Kinder vor dem Fernseher oder dem Computer sitzend verbringen, korreliert außerdem eng mit der überproportionalen Zunahme ihres Körpergewichts.

Der Grund dafür ist unsere immer urbaner und durchrationalisierter werdende Welt, die immer unnatürlicher wird. Richard Louv beschreibt den Zusammenhang zwischen mangelnder Bewegung und Aufenthalt in der Natur, der Bequemlichkeit der Eltern und der zunehmenden Fettleibigkeit von Kindern folgendermaßen: »Der größte Teil dieser Kindercontainerisierung findet aus Sicherheitsgründen statt. Doch damit ist langfristig die Gesundheit der Kinder gefährdet. In der medizinischen Zeitschrift Lancet 5)